Nach dem Mord an der Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll in Paris

Ermordet, weil sie jüdisch sind

Der Mord an der Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll hat den Ermittlern zufolge ein antisemitisches Motiv. Ein Gedenkmarsch in Paris richtete sich gegen wachsenden Antisemitismus in Frankreich.

Die alte Dame hatte den Holocaust überlebt. Als Kind blieb sie während der ­berüchtigten »Judenrazzia vom Winter­velodrom« versteckt. So bezeichnet man die Massenfestnahme von 13 000 Juden im Raum Paris im Juli 1942, die – über das französische Durchgangslager Drancy – in die Vernichtungslager ­Nazideutschlands abtransportiert und fast alle ermordet wurden. Am Abend des vorvergangenenen Freitag wurde die alte Dame in Paris umgebracht.

Der Körper von Mireille Knoll, Jahrgang 1932, wies Spuren von elf Messerstichen auf. Ihre Leiche wurde in teilweise verkohltem Zustand aufgefunden. An vier verschiedenen Stellen in ihrer Wohnung war Feuer gelegt, der Hahn am Gasherd geöffnet worden. Die ­Autopsie hat ergeben, dass die Stichverletzungen oder der damit verbundene Sturz den Tod der alten Dame herbeiführten. Mireille Knoll hatte ihren Mördern keinen Widerstand geleistet. Sie war aus Alters- und Gesundheitsgründen nicht mehr in der Lage, nach ­einem Sturz allein aufzustehen, und litt an der Parkinson-Krankheit. Ihre Ermordung im Pariser 11. Arrondissement, einem innerstädtischen Bezirk mit einem traditionell relativ starken jüdischen Bevölkerungsanteil, rief bei vielen Franzosen Entsetzen hervor. Im selben Bezirk war im April 2017 die 65jährige orthodoxe Jüdin Sarah Halimi von einem ihrer Nachbarn ermordet worden. Auch an der Ermordung Knolls war einer ihrer Nachbarn beteiligt, der zudem früher in ihrer Wohnung ein- und ausging.

Die Polizei ermittelte unverzüglich und konnte schnell zwei Männer der Tat überführen; sie warten nun in Untersuchungshaft auf ihren Prozess. Es handelt sich um den 27jährigen Yacine Mihoub sowie den 21jährigen Obdach­losen Alex Carrimbacus. Die beiden hatten sich zuvor im Gefängnis kennen­gelernt.

Ein unmittelbar politisch-ideologisches, etwa islamistisches Tatmotiv scheidet nach Auffassung der Ermittler aus. Die beiden mutmaßlichen Täter praktizierten keine Religion. Mihoub gilt als Alkoholiker und soll nach ­Angaben eines der Söhne des Opfers, Alain Knoll, der ihm am Nachmittag vor der Mordtat noch in der Wohnung seiner Mutter begegnet war, bereits eine Portweinflasche zu drei Vierteln ausgetrunken haben. Dem Sohn war es sehr unwohl in der Gegenwart dieses Nachbarn, den Mireille Knoll seit seinen Kindheitstagen kannte. Alain Knoll verließ ihre Wohnung erst, als die Haushaltshilfe eintraf, so dass seine Mutter nicht allein blieb. Mihoub ­kehrte jedoch offensichtlich später in die Wohnung zurück, zusammen mit Carrimbacus.

Ihr gemeinsames Tatmotiv ist unmittelbar materieller Natur, gründet jedoch erkennbar auf einer antisemi­tischen Einstellung: Sie waren überzeugt, dass bei Mireille Knoll Geld zu finden sein müsse, eben weil sie Jüdin war. Dies war nicht der Fall, die alte Dame lebte in einer städtischen Sozialwohnung und von einer nicht über­mäßig üppigen Rente. Die Ermittler nahmen deswegen umgehend ein anti­semitisches Motiv als taterschwerendes Mordmerkmal in die Akten auf.

 

Die beiden Verdächtigen fürden Mord an Mireille Knoll waren überzeugt, dass bei ihr Geld zu finden sein müsse, eben weil sie Jüdin war.

 

Dies unterscheidet ihr Vorgehen von dem im Falle Sarah Halimi, bei dem die polizeilichen Ermittler und die Staatsanwaltschaft zunächst mehrere Monate lang zögerten, bevor der Staatsanwalt Ende Februar dieses Tatmerkmal doch noch in die vorbereitete Anklageschrift aufnahm. Der mutmaß­liche Mörder von Sarah Halimi, der aus einer westafrikanischen Familie stammende Kobili Traoré, hatte in der Tatnacht im April 2017 zunächst andere im Mietshaus lebende Familien sowie Mitglieder seiner Familie terrorisiert. Daraufhin drang er in die Wohnung von Sarah Halimi ein, schlug sie brutal zusammen und warf sie nach »Allahu Akbar«-Rufen vom Balkon. Er gilt als Täter mit schweren psychischen ­Problemen, die durch Cannabis-Konsum noch verschärft wurden. Nach der Tat wurde er vorübergehend in die Psychi­atrie eingewiesen, gilt jedoch als schuldfähig. Nach eigenen Aussagen bei der Polizei verleitete ihn der Anblick jüdischer Religionssymbole in der Wohnung seines Opfers dazu, an die Präsenz »teuflischer Zeichen« zu glauben. Deswegen wurde, wenn auch mit Verspätung, ein antijüdisches Motiv als taterschwerender Umstand festgehalten.

Mihoub, einer der beiden mutmaß­lichen Mörder von Mireille Knoll, stammt eher aus einem kleinkriminellen Milieu. Er war unter anderem ­inhaftiert, weil er die zwölfjährige Tochter der Haushaltshilfe Mireille Knolls sexuell missbraucht hatte. Auch hatte er telefonisch angedroht, ein Geschäft, in dem er zeitweilig arbeitete und wo ihm gekündigt worden war, »in die Luft zu jagen«. Innenminister Gérard Collomb geht nach den bisherigen ­Ermittlungsergebnissen davon aus, dass eine religiös-politische Prägung aus­zuschließen sei, vielmehr liege ein genereller krimineller Hintergrund vor; ­Mihoubs Name tauche in »22 bis 24 Strafverfahren« unterschiedlicher ­Natur auf.

Das an die jüdische Identität des Opfers gekoppelte finanzielle Motiv – »Juden haben Geld« – macht die ­Tötung Mireille Knolls mit dem Foltermord an dem jungen jüdischen Telefonverkäufer Ilan Halimi vergleichbar. Er war im ­Januar 2006 in Paris entführt, im Heizungskeller ­einer Hochhaussiedlung in der Trabantenstadt Bagneux festgehalten und drei Wochen lang misshandelt worden. Dem Tode nahe wurde er dann mit einem Auto ausgesetzt und sterbend in der Nähe einer Bahnlinie aufgefunden. Eine 18köpfige kriminelle Organisation, deren Anführer Youssouf Fofana ihr selbst die Bezeichnung »Gang der Barbaren« verlieh, wurde daraufhin aus­gehoben, ihre Mitglieder wurden verhaftet und zum Teil zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Fofana hatte einen kriminellen Hintergrund und war fasziniert von Jihadisten.

 

 

 

Gemeinsam war den Mitgliedern seiner Bande, ebenso wie offensichtlich den Mördern von Mireille Knoll, die Entmenschlichung ihrer Opfer.

Die politische Rezeption des Mordes an Mireille Knoll, über den die fran­zösischen Medien ausführlich berichteten, unterscheidet sich von der im ­Falle Sarah Halimi. Ihre Ermordung wurde in der innenpolitischen Debatte zunächst kaum aufgegriffen, wohl weil das antisemitische Tatmotiv offiziell noch umstritten war und weil die Tat mitten in die Hochphase des fran­zösischen Präsidentschaftswahlkampfs fiel. Jüdische Organisationen und ­prominente Anwälte forderten, ein antisemitisches Motiv mit in die Anklageschrift aufzunehmen, was nach einigen Monaten doch noch erfolgte.

Nach dem Mord an Mireille Knoll wurden hingegen schnell deutliche Worte gesprochen. Innenminister ­Gérard Collomb sagte anlässlich einer Parlamentsaussprache: »Juden haben heute Angst in Frankreich«, und Staatspräsident Emmanuel Macron nahm an der Beerdigung des Opfers teil. Von ganz links bis ganz rechts gab es Anteilnahme.

An einem Gedenkmarsch am Mittwochabend voriger Woche nahmen in Paris nach Angaben des jüdischen Dachverbands CRIF rund 30 000 Menschen teil. Der französisch-jüdische Philosoph Alain Finkielkraut, dessen Stellungnahmen in jüngerer Zeit eher durch Pessimismus und Kulturkonservativismus geprägt waren, hob lobend hervor, anders als nach dem Mord an Ilan Halimi hätten daran sowohl ­Juden als auch Nichtjuden in größerer Zahl teilgenommen.

Während die Leitung des CRIF nur an die etablierten staatstragenden Parteien appellierte und sowohl den rechts­extremen Front National als auch die Organisation La France Insoumise des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon für unerwünscht erklärte, kamen letztlich Vertreter beider Organisationen ebenfalls zu dem Gedenkmarsch. ­Bürgerliche Medien vermeldeten daraufhin, sowohl Mélenchon als auch Marine Le Pen seien vertrieben worden. Die Wirklichkeit ist jedoch nicht ganz so einfach. Mélenchon wurde von mehreren Dutzend Angehörigen der rechtsextremen Jüdischen Verteidigungsliga LDJ – der französische ­Ableger der in den USA und Israel als rechtsterroristisch verbotenen Kach-­Bewegung – verbal attackiert. Er verließ daraufhin den Gedenkmarsch mit den Worten: »Heute geht es nicht um mich, sondern um Mireille Knoll. Man muss es philosophisch nehmen.« ­Marine Le Pen dagegen wurde von Teilnehmern des Marschs mit Rufen wie »Nazis, Faschisten« verbal angegriffen. Ihr standen Ordner der LDJ jedoch helfend zur Seite. Nach einer Stunde reihte sich Marine Le Pen nochmals kurzfristig in den Gedenkmarsch ein.

Die umfassende Unterstützung für den Gedenkmarsch ebenso wie die schnelle Reaktion der Ermittler, die ein antisemitisches Motiv bejahten, sind das Neue nach dem Mord an Mireille Knoll. Ob das die Beunruhigung ­jüdischer Menschen in Frankreich abzuschwächen vermag, ist noch nicht abzusehen.

In den vergangenen zehn Jahren haben Rechtsextreme dem Antisemitismus Vorschub geleistet, wie der Nazi Alain Soral und der »Komiker« Dieudonné, zu dessen Auftritten Tausende Besucher kamen. Jüngst erhielt die 1941 geborene Holocaust-Überlebende ­Lucienne Nayet in Südwestfrankreich nach Angaben der Union des Juifs pour la Résistance et l’Entraide Morddrohungen; auf einer rechtsextremen Website wurde ihr vorgeworfen, von einem »schäumenden und genozidalen, semitischen Hass auf die weiße Rasse« geleitet zu sein.

Vor allem aber wurden Jüdinnen und Juden in den vergangenen Jahren Dutzende Male Opfer von antisemitischen Gewalttaten. Sei es aus kriminellen Motiven im Zusammenhang mit unterstelltem Reichtum, wie bei Mireille Knoll und bei dem Überfall auf ein jüdisches Ehepaar zu Hause, Ende 2014 in der Pariser Vorstadt Créteil. Sei es aus jihadistischer Ideologie, wie bei den ­jüdischen Opfern der Terroristen Mohamed Merah 2012 in Toulouse und Amedy Coulibaly im Januar 2015 in Paris.

Nach Angaben des Historikers Marc Knobel in der Tageszeitung Le Monde verließen in den vergangenen zehn Jahren insgesamt 60 000 Jüdinnen und Juden Frankreich – das wäre ein Zehntel der jüdischen Minderheit im Land. Die Motive dafür sind sicherlich gemischt, auch allgemeine Perspektivlosigkeit zählt dazu. Die immer häufiger werdenden antisemitischen ­Agressionen spielen jedoch eine wichtige Rolle.