Die Angeklagten im Tarnac-Prozess wurden in Frankreich freigesprochen

Zwischen Revolution und Fiktion

Nach jahrelangen Ermittlungen ist in Frankreich der Prozess gegen eine vermeintliche anarchistische Terrorgruppe zu Ende gegangen. Die »Gruppe von Tarnac« stellte sich als Hirngespinst der Ermittler heraus.

Revolutionsromantik ist nicht verboten. Das ist das Fazit der fast zehnjährigen Ermittlungen gegen die »Gruppe von Tarnac«, die am Freitag vergangener Woche mit dem Urteil des Pariser Strafgerichts unter dem Vorsitz der Richterin Corinne Goetzmann ihr Ende fanden. Die Gruppe sei eine Fiktion polizeilicher Ermittler, so Goetzmann. Ihren angeblichen Mitgliedern, den Ermittlern zufolge »anarchistisch-autonomen Terroristen«, wurde vorgeworfen, 2008 Bahnlinien sabotiert zu haben. Im ­November 2008 waren deswegen unter anderem in einer Landkommune in Tarnac mehrere Personen festgenommen worden.

Als intellektueller Anführer der Gruppe galt den Ermittler Julien Coupat. Der 43jährige soll demnach auch Urheber oder zumindest Co-Autor des schmalen Bandes »L’insurrection qui vient« (»Der kommende Aufstand«) sein, der 2007 erschienen war und eine Zeitlang für Furore gesorgt hatte. ­Darin wird behauptet, es gebe keine Zentren der Macht mehr, sondern das Herrschaftssystem nehme die Form eines Netzwerks an. Dieses Netzwerk, das sich unter anderem in Form von Computer- oder Schienennetzen manifestiere, sei überall angreif- und verwundbar. Alle legalen Aktionen, vom Streik bis zur parteipolitischen Betä­tigung, werden hingegen verdammt, da sie an den »Saugnäpfen des Systems« kleben.

Aus solchen Passagen leiteten die Ermittler des Innenministeriums konkrete Sabotagepläne ab. Einer der damals führenden Stichwortgeber des staatlichen Sicherheitsapparats, der Kriminologe Alain Bauer – der das Büchlein bei Amazon entdeckt hatte –, glaubte sogar Parallelen zur Vorbereitung der Oktoberrevolution von 1917 zu erkennen, weil es eine zentrale Strategie der Bolschewiki gewesen war, Bahnhöfe zu besetzen. Mit seinen Thesen fand Bauer of­fene Ohren beim Inlandsgeheimdienst und bei der damaligen Innenministerin Michèle Alliot-Marie. Das lag möglicherweise daran, dass nach dem Ende des Kalten Kriegs manchen Diensten Stellenabbau drohte, sollte ihnen Überflüssigkeit attestiert werden.
Als im November 2008 Bahnlinien mit Hakenkrallen beschädigt wurden, schlug die Polizei zu, im Glauben, mit Coupat in Paris sowie seinen Freunden in einer Landkommune in Tarnac Täter sowie Verantwortliche im Hintergrund zu kennen. Verübt worden waren die Anschläge jedoch mutmaßlich von Atomkraftgegnern, um Castor-Transporte zu verhindern. Mit diesem Thema beschäftigte sich Coupat nicht.

Das Urteil vom Freitag voriger Woche tadelte das zum Teil rechtswidrige Vorgehen der Antiterrorermittler. Diese hatten unter anderem behauptet, in der Nacht des Hakenkrallenanschlags Coupat und seiner damaligen Lebensgefährtin Yldune Lévy rund um die Uhr im Auto gefolgt zu sein, um sie zu beschatten. Doch im Laufe des Prozesses stellte sich heraus, dass sie vielmehr ­illegal einen GPS-Peilsender unter dem Fahrzeug platziert hatten, mit dem sie die Route von Coupat und Lévy – die sie in die Nähe eines der Anschlagsorte im östlichen Pariser Umland führte – nachzeichnen konnten. Denn die angebliche Beschattung endete stets, wenn das Auto in eine Tiefgarage fuhr oder eine Brücke unterquerte, was dann im Protokoll als »Tunnel« vermerkt wurde. Die Richterin zeigte sich genervt davon, dass gewissen Polizeidiensten sie offensichtlich in die Irre geführt hatten.

Die beiden Hauptangeklagten, Coupat und Lévy, die sechs Monate respektive zwei Monate in Untersuchungshaft verbracht hatten, wurden freigesprochen und können nun Haftentschädigung geltend machen. Die höchste verhängte Strafe für einen der weiteren Angeklagten beläuft sich auf 500 Euro Geldstrafe und vier Monate Haft auf Bewährung, weil er einen falschen Ausweis benutzt und sich geweigert hatte, sich eine Speichelprobe zwecks DNA-Analyse abnehmen zu lassen.

Der französische Sicherheitsapparat hat sich komplett blamiert, wie auch die bürgerliche Presse in Frankreich größtenteils meint. Diese sieht die »anarcho-autonome Bewegung«, die 2009 unter der Ägide der damaligen Ministerin Alliot-Marie zum neuen inneren Feind aufgebauscht worden war, nun allerdings in neuer Form als Bedrohung wiederkehren: als Teil der Besetzerbewegung in Notre-Dame-des-Landes. Am Freitag vergangener Woche hatten die Behörden angekündigt, das vormals als Gelände für den Flughafenbau ausgewiesene Areal werde nun vollständig geräumt. Zwar waren 13 Gebäude – bewohnte Häuser, aber auch alternative Landwirtschaftsbetriebe – zerstört worden, doch einige Besetzerinnen und Besetzer harrten weiter aus. Auch nach Freitag kam es dort immer wieder zu schweren Auseinandersetzungen mit den Einsatzkräften. Diese intensivierten sich im Laufe des Wochenendes, an dem die Besetzerinnen und Besetzer noch Verstärkung von außerhalb erhielten. Am Sonntagnachmittag befanden sich nach Angaben der Präfektur rund 4 000 Besetzer auf dem Gelände, der Protestbewegung zufolge waren es zwischen 10 000 und 20 000 Menschen.