Michael Hardt im Gespräch über biographische und aktuelle Zugänge zu Marx

»Die Geschichte des Kommunismus ist voller Niederlagen«

Karl Marx’ 200. Geburtstag steht bevor. Er wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren. Sein Hauptwerk, »Das Kapital«, widmet sich einer fundamentalen Kritik der politischen Ökonomie. Sein Werk entfaltete eine immense geistesgeschichtliche und politische Wirkung – die Volksrepublik China, das bevölkerungsreichste Land der Welt, beruft sich noch heute auf Marx. Die »Jungle World« sprach mit Michael Hardt, der gemeinsam mit Antonio Negri ein Vertreter der neomarxistsichen Tradition des (Post-)Operaismus ist.
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Da dieses Gespräch aus Anlass des 200. Geburtstags von Marx statt­findet – wie kam Ihre erste Begegnung mit Marx und seinem Werk zu­stande?
Der Kontakt kam schrittweise zustande. Im Sommer 1980 war ich 20 Jahre alt und arbeitete als Ingenieur in Italien. Ich kam dort in Kontakt mit radikalen Linken und kam von der radikalen Politik zur marxistischen Theorie. Es klingt merkwürdig, aber in Italien erfuhr ich auch erstmals von der marxistischen und kommunistischen Tradition der USA. Da gab es einen Radiosender, Radio Popolare aus Mailand. Diese Leute stellten mir die kommunistische Zeitung Il Manifesto vor, dort erfuhr ich von den außerparlamentarischen linken Organisationen und Bewegungen im Italien der siebziger Jahre, wie Potere Operaio, Lotta Continua und Autonomia Operaia. Das hat mich inspiriert, mich mehr mit deren Theorie, dem Operaismus, zu beschäftigen. Das habe ich ab Mitte der achtziger Jahre dann angefangen sehr intensiv zu tun.

»Wir erleben gerade eine autoritäre Wende des Neoliberalismus mit dem Wiederaufleben und Machtzuwachs nationaler Regimes.«

In der Theorie des italienischen Operaismus geht es viel um den Zu­sammenhang zwischen Herrschaftsform, Produktionsverhältnissen und Widerstand. Warum haben Sie sich gerade damit befasst?
Was ich an der Theorie so aufregend fand, konnte ich damals noch gar nicht richtig artikulieren. Eine fundamen­tale Prämisse von Operaismus und Postoperaismus ist, dass Widerstand der Macht vorausgeht. Wie Mario Tronti es formuliert, ging die Verweigerung der Arbeiter nicht nur den Etappen kapitalistischer Entwicklung voraus, sondern hat diese auch geprägt. Was ich daran faszinierend fand, war, dass dadurch die Rangfolge von Macht und Herrschaft und revolutionärem Kampf vertauscht wurden. Diese Sichtweise erkennt die Innovationen von Formen der radikalen Verweigerung und gesteht ihnen Prio­rität zu, während die Herrschaftsform als Reaktion darauf verstanden wird.

Findet man das nicht schon bei Marx?
Ja, zum Beispiel in dem Abschnitt über die Fabrikarbeit in Kapitel 15 im ersten Band von »Das Kapital«. Marx zufolge kann man eine ganze Geschichte kapitalistischer Entwicklung anhand der Technologie schreiben, beginnend mit den Streiks von Arbeitern. Der Einsatz von Technologie im Kapitalismus ist eine Reaktion auf die Initiative von ­Arbeitskämpfen. Technologische Entwicklung und das industrielle Rahmenwerk entstehen als Reaktion auf Aufstände.

Was unterscheidet eigentlich Postoperaismus von Operaismus?
Ein zentraler Unterschied ist, dass der Operaismus bis Anfang der siebziger Jahre seinen zentralen Fokus auf dem Industriearbeiter hatte. Eine Verschiebung, die mit dem Postoperaismus identifiziert wird, ist die Anerkennung der Pluralität sozialer Subjektivitäten, die revolutionäre Handlung ermöglicht. Das ist keine Abkehr vom Industrie­arbeiter, sondern man erkennt Kämpfe gegen Rassismus, feministische und ­andere Kämpfe als Teil eines politischen Horizonts an, der nicht auf den Industriearbeiter beschränkt ist.

Als Sie mit Antonio Negri »Empire« publizierten, wurde es als das Kommunistische Manifest des 21. Jahrhunderts gepriesen. Haben Sie das beim Schreiben so empfunden?
Natürlich nicht. Ein Manifest sollte schließlich kurz sein. Aber das war auch nicht unser Ziel. Was wir versuchten zu analysieren war das, was wir als eine fundamentale Verschiebung in globalen Strukturen der Herrschaft verstanden, aber auch als eine Veränderung im Hinblick auf die Chancen ­einer Revolution.

Das Buch entwickelte sich zu einer Serie, das neueste in der Reihe heißt »Assembly« – Versammlung. Worum geht es darin?
Die Idee entstand angesichts unserer Begeisterung über die weltweiten Revolten von 2011, die in Ägypten und Tunesien begannen, aber auch in Spanien, Griechenland und den Vereinigten Staaten stattfanden, schließlich 2013 in der Türkei. Was man dort und in vielen anderen Teilen der Welt beobachten konnte, waren Bewegungen ohne zentralisierte Führung, die auf Versammlungsstrukturen der Entscheidungsfindung gegründet waren. Warum gelang es diesen Bewegungen, die die Bedürfnisse und die Sehnsucht von so vielen Menschen repräsentierten, nicht, eine grundsätzlich andere und bessere Welt hervorzubringen? Wir fragten uns, wie eine Bewegung zugleich neue Formen von Organisation hervorbringen kann, die nicht nur demokratisch, sondern auch dauerhaft und effizient sind.

Wie müsste das aussehen?
Es geht darum, die falsche Alternative zwischen wunderschönen demokratischen Bewegungen, die zugleich kurzlebig und ineffizient sind, und den verhassten zentralisierten Parteistrukturen der Vergangenheit zu vermeiden. Letz­tere sind übrigens nicht unbedingt dauerhafter oder effizienter. Außerdem geht es nicht nur darum, die Macht zu ergreifen. Es gibt vielmehr drei Strategien, die in den vergangenen Jahrzehnten in der radikalen Linken eine Rolle gespielt haben. Die Machtübernahme ist eine davon. Eine weitere, die wir für ­extrem wichtig halten, nennen wir »antagonistischen Reformismus«. Sie basiert auf der Idee des langen Marschs durch die Institutionen, ein Begriff, den Rudi Dutschke in Deutschland geprägt hat. Den dritten Ansatz sehen wir in der »präfigurativen«, also der vorbildhaften Politik. Toni und ich benutzen dafür manchmal den Begriff des Exodus. Im Zuccotti Park von New York entstand während der »Occupy«-Bewegung das Vorbild einer zukünftigen Gesellschaft. Diese drei Dinge – Machtübernahme, antagonistischer Reformismus und präfigurative Politik – betrachten wir nicht als Alternativen, sondern als kom­plementär und miteinander verwoben.

Aber auf diese hoffnungsvollen Momenten folgte statt einer besseren Gesellschaft ein autoritärer Backlash, der ausgerechnet in Ägypten, dem Ort der größten Massenbewegung von 2011, besonders extrem ausfiel.
Die Türkei und Russland können damit ebenfalls gut mithalten.

 

Sehen Sie einen Zusammenhang dieser weltweiten autoritären Entwicklung mit den zuvor genannten populären Revolten?
Ich wäre vorsichtig mit der Behauptung, dass diese autoritären Regimes durch die Bedrohung der Befreiungsbewegungen verursacht wurden. Wir erleben gerade eine autoritäre Wende des Neoliberalismus mit dem Wiederaufleben und dem Machtzuwachs nationaler Regimes. Wir müssen den Neoliberalismus und die globale Ordnung auf der Basis dieser autoritären Regimes überdenken. Das bedeutet nicht, dass wir zum bewaffneten Kampf oder anderen Mitteln des militanten Antifaschismus der ­Vergangenheit zurückkehren müssen. Dieser neue Zustand stellt die Organi­sation der Befreiung vor neue Herausforderungen.

Wir reden ja immer noch über Marx’ Geburtstag. Wo sehen Sie denn an­gesichts dieser Herausforderung eine Inspiration, um Antworten auf diese zu finden?
Ich versuche es einmal mit einer lokalen Antwort, aber vielleicht funktioniert sie auch im Allgemeinen: Um zu verstehen, wie Donald Trump an die Macht kam und wie er hinsichtlich der etablierten politischen Parteien agiert, fand ich es ausgesprochen hilfreich, dies im Rahmen von Marx’ »Achtzehnten Brumaire« zu verstehen (siehe auch Seite 4). Wie konnte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Louis Bonaparte, ein unbeholfener Idiot, Frauenfeind und Glücksspieler, an die Macht kommen – und warum ließen die beiden großen Parteien der französischen Bourgeoisie es zu? Was bedeutet dies für die Möglichkeiten von revolutionärem Kampf? Inmitten einer fürchterlichen Niederlage analysierte Marx 1851 völlig korrekt, wie die Machtstruktur sich verändert hatte.

Wäre es verfrüht zu fragen, was man daraus für den Kampf um Befreiung heute schlussfolgern kann?
»Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« bietet ein Modell, das nützlich sein könnte. Im letzten Kapitel entwirft Marx das Konzept des revolutionären Kampfs als Maulwurfsarbeit. Die Idee ist, dass die Revolution aufsteigt und besiegt wird und dann scheinbar verschwindet. Doch in Wahrheit arbeitet sie unter Oberfläche weiter. Das nächste Mal, wenn sie wieder aufsteigt, wird sie sich noch weiter entwickelt haben. Marx versucht die Kontinuität des ­revolutionären Kampfes in einer scheinbar diskontinuierlichen Geschichte zu verstehen. Das ist die Arbeit des Maulwurfs. Das sagt jetzt noch wenig über die Form aus, die dieser Kampf annehmen wird, aber es zeigt, wie unsere ­eigenen revolutionären Handlungen sich an die der Vergangenheit anschließen.

Hat Marx nicht das Phänomen Bonaparte völlig falsch eingeschätzt? Er hielt ihn für eine historische Eintagsfliege, doch er blieb 20 Jahre an der Macht. Die Revolution betritt erst mit der Pariser Kommune wieder die Bühne der französischen und der Weltgeschichte.
Eine weitere Niederlage. Die Geschichte des Kommunismus ist voller Nieder­lagen. Nicht Scheitern. Niederlagen. Das scheint mir, was Marx selbst versucht auszudrücken.

Im »Brumaire« findet sich auch die Figur des Lumpenproletariats – ­jener Teil der unteren Klassen, die sich auf die falsche Seite schlagen. Ist das nicht ein Phänomen, dass Linke zum eigenen Schaden unterschätzen?
Ich finde, das ist eine der vielen Stellen, an der wir über Marx hinausgehen sollten. Das bedeutet nicht, dass man ihn vergessen soll. Meine Referenz wäre hingegen die Black Panther Party in den USA, die das Lumpenproletariat als revolutionäre Kraft ­theoretisch neu fassen wollte. Sie sah den Erfolg ihrer eigenen Organisation in den Gefängnissen und unter den Arbeitslosen, und sie sah dabei auch die Klassenspaltung entlang rassistischer Kriterien. Sie sah im Subproletarier das Potential, wenn nicht gar die Notwendigkeit, ihn zu organisieren. Die Panthers hätten übrigens auch nicht gesagt, dieses Subproletariat sei zwangsläufig, unmittelbar oder spontan revolutionär. Es bedarf dafür der Organisation und des politisches Handelns.