David Motadel, Historiker, im Gespräch über die Islampolitik im »Dritten Reich«

»Die Deutschen als Schutzmacht des Islam«

Der Historiker David Motadel erforscht die Islampolitik im Nationalsozialismus. Sie sei umfassender angelegt gewesen, als es die Geschichtswissenschaft bisher dargestellt habe, so seine These.
Interview Von

Auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs, 1941/42, haben die Nazis begonnen, den Islam als politisch bedeutende Kraft wahr­zunehmen. Warum?
Die Gründe für diese Politik waren vielfältig. Zum einen waren die deutschen Truppen in vielen Gebieten, in denen sie ab 1941/42 kämpften, mit einer islamischen Bevölkerung konfrontiert – vor allem auf dem Balkan, in Nordafrika, aber auch auf der Krim und im Kaukasus. Gleichzeitig verschlechterte sich Ende 1941 die militärische Lage. Die Strategie des Blitzkriegs war in der Sowjetunion gescheitert. Die deutschen Truppen gerieten zunehmend unter Druck. Die Führung bemühte sich daher aus kurzfristigem militärischem Kalkül heraus, neue Verbündete zu gewinnen. Das NS-Regime versuchte intensiver, Muslime zum Kampf gegen angeblich gemeinsame Feinde zu mobilisieren – das britische Empire, die Sowjetunion, Amerika, Juden.

Auf welchem Weg geschah dies?
Bereits 1941, kurz vor dem Einmarsch in Nordafrika, gab die Wehrmacht die Tornisterschrift »Der Islam« heraus, um die deutschen Soldaten im Umgang mit den dortigen Muslimen zu instruieren. Die Broschüre enthielt nicht nur praktische Ge- und Verbote im Umgang mit Muslimen vor Ort, sondern auch einen kurzgefassten Überblick über die Geschichte und die Traditionen des Islam – mit dem Ziel, Verhaltensweisen zu verhindern, die von Muslimen als verletzend oder anstößig empfunden werden konnten.

An der Ostfront, also in der Sowjetunion, wo Stalin vor dem Krieg den Islam unterdrückt hatte, bauten die deutschen Besatzer Moscheen und Koranschulen wieder auf, in der Hoffnung, so die Sowjetherrschaft zu unterminieren. Auch wurden islamische Geistliche aus Nordafrika, vom Balkan und aus den Ostgebieten angeworben. Deutsche Propagandisten politisierten religiöse Texte wie den Koran und religiöse Imperative wie das Konzept des Jihad, mit dem Ziel, Muslime zur religiösen Gewalt gegen die angeblich gemeinsamen Feinde anzustacheln. Die Deutschen versuchten, sich als Schutzmacht des Islam zu präsentieren.

Wie sah die an Muslime gewandte Propaganda aus?
Insgesamt war die deutsche Islampolitik in den verschiedenen Frontgebieten erstaunlich kohärent. Die deutschen Stellen neigten dazu, muslimische Bevölkerungsgruppen ausschließlich unter der Kategorie des »Islam« zusammenzufassen. Den Nazis erschien die Religion als nützliches Instrument angesichts ethnisch, sprachlich und sozial heterogener Bevölkerungen. Tatsächlich wurden Begriffe wie »Islam« und »Muslime« zentrale bürokratische Kategorien in amtlichen und mili­tärischen deutschen Dokumenten. Im Gegensatz zu ethnisch-natio­nalen Kategorien hatte der Bezug auf den Islam außerdem den Vorteil, sensible Fragen nach nationaler Unabhängigkeit zu vermeiden.

Welche Rolle spielte die militä­rische Mobilisierung von Muslimen?
Wehrmacht und Waffen-SS rekrutierten ab 1941 Zehntausende muslimische Freiwillige – darunter Bosnier, Albaner, Krimtataren und Muslime aus dem Kaukasus und aus Zentral­asien. Man erhoffte sich, dadurch »deutsches Blut« zu sparen und die Verluste an der Ostfront auszugleichen. Muslimische Soldaten wurden an allen Fronten eingesetzt – sie kämpften in Stalingrad, Warschau, Mailand und sogar bei der Vertei­digung Berlins. Interessanterweise wurden den Rekruten umfassende religiöse Zugeständnisse gemacht: etwa beim Gebet oder dem Schächten. Eigentlich war das Schächten 1933 in Deutschland durch das Reichstierschutzgesetz verboten worden. 1941 wurde dieses allgemeine Verbot schließlich aufgehoben – aus Rücksicht auf die Muslime in der deutschen Armee. Eine besondere Rolle in den Einheiten spielten Militär­imame. Diese waren nicht nur für die religiöse Betreuung der Rekruten verantwortlich, sondern auch für deren politische Indoktrinierung.

Warum schlossen sich Muslime dem deutschen Militär an?
In der Regel nicht aus religiösen Beweggründen. Viele Muslime wurden in Kriegsgefangenenlagern rekrutiert. Ihnen ging es vor allem darum, dem Hunger und den Seuchen in den Camps zu entkommen. Und sie hofften einfach, dass ihnen eine deutsche Uniform ermöglichen würde, den Krieg zu überleben. Andere hingegen setzten darauf, mit Hilfe Deutschlands ihre Heimat von der Sowjetherrschaft zu befreien. In Gebieten, in denen die Wehrmacht und SS Freiwillige aus der Zivilbevölkerung rekrutierten – etwa auf dem Balkan oder auf der Krim –, hofften viele, ihre Familien so vor Partisanen und marodierenden Milizen zu schützen.

Interessant ist, dass einige der ehemaligen muslimischen SS- und Wehrmacht-Soldaten, die nach dem Rückzug in Deutschland gelandet waren, nach dem Krieg dort blieben und die ersten muslimischen Organisationen der Bundesrepublik gründeten.

Welche sind das?
Hitler hatte mehr Muslime nach Deutschland gebracht, als dort je gelebt hatten, und einige von ihnen blieben auch nach dem Krieg im Land. In München gründeten diese Muslime 1953 die erste islamische Organisation der Bundesrepublik, die sogenannte »Islamitische Glaubensgemeinschaft für Westeuropa«, deren Leiter der ehemalige Wehrmachts­imam Ibrahim Gacaoglu war. Bald darauf folgte die konkurrierende »Geistliche Verwaltung der Muslimflüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland e. V.«, die von dem früheren Chefimam der Ostmuselmanischen SS-Division, Nurredin Namangani, geleitet wurde. Diese Gruppen wurden in der BRD als politisch ­bedeutsam eingestuft und offiziell stark unterstützt.

Wie passte die Einbindung von Muslimen mit der nationalso­zialistischen »Rassenpolitik« zusammen?
Hitler hatte sich zwar immer wieder verächtlich über Inder oder Araber geäußert. In der Praxis jedoch zeigte sich das NS-Regime pragmatisch: Nichtjüdische Türken, Iraner und Araber wurden bereits in den dreißiger Jahren explizit von jeglicher offiziellen rassistischen Diskriminierung ausgenommen – aufgrund von Interventionen der Regierungen in Teheran, Ankara, und Kairo.

Während des Krieges bewiesen die Deutschen ähnlichen Pragmatismus gegenüber Muslimen vom Balkan und den turksprachigen Minderheiten der Sowjetunion.

Dennoch bestand der Rassismus fort. Die deutsche Politik, wie sie von Bürokraten in Berlin entworfen wurde, hatte häufig wenig mit den Realitäten in den Frontzonen zu tun. Ein Beispiel: In den ersten Monaten nach dem Überfall auf die Sowjetunion erschossen SS-Einsatzgruppen Tausende Muslime, insbesondere Kriegsgefangene, weil sie aufgrund deren Beschneidung darauf geschlossen hatten, dass es sich um Juden handele. Dies führte schließlich dazu, dass Reinhard Heydrich, als Chef des SS-Reichssicherheitshauptamtes, einen Befehl erließ, in dem er die Einsatzgruppen dazu ermahnte, vorsichtiger zu sein. In den Frontgebieten stießen die Deutschen auf religiös und ethnisch heterogene Bevölkerungen, darunter muslimische Roma und jüdische Konvertiten zum Islam. Allein in Sarajevo waren zwischen April und Oktober 1941 etwa 20 Prozent der jüdischen Bevölkerung zum Islam oder zum Katholizismus konvertiert. Anderen gelang es, als Muslime ­verkleidet zu flüchten, etwa versteckt unter einem islamischen Schleier.

Betrieben die Deutschen schon vor der NS-Zeit Islampolitik?
Bereits seit dem späten 19. Jahrhundert befassten sich die Deutschen eingehender mit dem Islam. Schon das Kaiserreich herrschte über beachtliche muslimische Bevölkerungsgruppen in den Kolonien – in Togo, Kamerun und Deutsch-Ostafrika.

Deutsche Kolonialbeamte und -offiziere versuchten hier regelmäßig, die Religion als ein Herrschaftsinstrument zu nutzen. So erkannten sie etwa Sharia-Gerichte und Koranschulen an und herrschten mit Hilfe islamischer Vermittler, die, im Gegenzug für religiöse Autonomie, dem Kolonialstaat Legitimität verschafften.

Später wurde der Islam für die wilhelminische Weltpolitik immer re­levanter. Besonders deutlich wurde dies während der Nahost-Reise von Wilhelm II. 1898, als er sich im Anschluss an den Besuch des Saladin-Grabes in Damaskus in einer Rede zum »Freund« der, wie er es ausdrückte, »300 Millionen Mohammedaner« der Welt erklärte. Schließlich versuchte Berlin, Muslime im Ersten Weltkrieg zu mobilisieren. So überzeugten sie 1914 die osmanischen Verbündeten, einen Jihad gegen die Entente-Mächte zu erklären.

In der Islampolitik des Nationalsozialismus gab es einige personelle und ideenhistorische Kontinuitäten: So waren zentrale Planer der Islampolitik des Ersten Weltkriegs, allen voran der Diplomat Werner Otto von Hentig und der Offizier Oskar Ritter von Niedermayer, auch im Zweiten Weltkrieg wieder involviert. Daneben wurden in den Dreißigern  und Vierzigern alte Pläne und Schriften zur deutschen Islampolitik wieder hervorgeholt.

War die Islampolitik im Sinne des nationalsozialistischen Kalküls erfolgreich?
Während die Politik des Jihad im Ersten Weltkrieg als Fehlschlag gewertet werden kann, gelang es im Zweiten Weltkrieg immerhin, Zehntausende Muslime für den Kampf gegen die Alliierten zu mobilisieren. Insgesamt jedoch waren die deutschen Versuche, muslimische Verbündete zu gewinnen, weniger erfolgreich als erhofft. Die militärische Lage war ab 1943 so aussichtslos, dass auch die muslimischen Soldaten daran nichts ändern konnten. Deutschlands Feinde – also vor allem das Britische Empire, aber auch die Sowjetunion – waren häufig sehr viel erfolgreicher darin, Muslime zu rekrutieren. Hunderttausende kämpften für die Alliierten – vor allem in den Kolonialtruppen der Briten und bei de Gaulles Streitkräften für ein freies Frankreich. Diese muslimischen Soldaten trugen maßgeblich zur Befreiung Europas bei.

Wie beurteilten die Nazis die ­Einbindung von Muslimen ideologisch?
Einige führende Nazis, vor allem Hitler und Himmler, waren vom Islam fasziniert – und haben auch wiederholt öffentlich ihre ideologische Sympathie für den Islam bekundet. Wann immer Hitler während der Kriegsjahre die katholische Kirche kritisierte, verglich er sie mit dem ­Islam als positivem Gegenbeispiel: Während er den Katholizismus als schwache, verweichlichte Religion verurteilte, lobte er den Islam als starke, aggressive Kriegerreligion. Insgesamt waren es jedoch strategische, pragmatische Gründe – keine ideologischen Motive –, die hinter der deutschen Islampolitik standen. Der Islam war für das NS-Regime vor ­allem Mittel zum Zweck – das war jedem bewusst. Und dennoch: Das Fehlen ideologischer Bedenken gegen den Islam und Muslime war eine notwendige Voraussetzung für die deutsche Islampolitik.

Welche Bedeutung hatte dabei der Antisemitismus?
Eine enorme – so wie in der deutschen Auslandspropaganda insgesamt. Häufig war er verbunden mit Angriffen auf die zionistische Migration nach Palästina. Besonders stark wurde diese Propaganda in der arabischen Welt betrieben, aber auch auf dem Balkan und an der Ostfront war die NS-Propaganda für Muslime stark antisemitisch aufgeladen. Das Regime nutzte Rundfunk- ebenso wie Flugblattpropaganda in den entsprechenden lokalen Sprachen.

Einige der muslimischen Verbündeten – allen voran der Mufti von Jerusalem – teilten den Judenhass des NS-Regimes. In den Kriegsgebieten selbst – also auf dem Balkan, in Nordafrika oder in den Ostgebieten – war das Bild komplizierter. In vielen dieser Gebiete hatten Muslime und Juden lange Zeit zusammengelebt. Und in einigen Fällen halfen Muslime Juden, sich vor den Deutschen zu verstecken.