Zehn Jahre nach Samuel P. Huntingtons Tod und ein Vierteljahrhundert nach der ersten Veröffentlichung seiner provokanten These vom Kampf der Kulturen

Die Berechenbarkeit der Zukunft

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Huntington hielt die Grenzen der Weltkulturen sowie die persönliche Identifikation einzelner Menschen mit ihnen dennoch für fließend und ver­änderbar, wie an anderen Stellen durchaus deutlich wird. Die tatsächlichen geographischen Grenzen zwischen den Zivilisationen, die Huntington mit einem Begriff der Platten­tektonik als »Bruchstellen« bezeichnete, hielt er für besonders konfliktbe­laden. »Die Bruchstellen zwischen den Zivilisationen sind die Schlachtlinien von morgen«, schrieb er und hatte dabei insbesondere die Balkan-Kriege der neunziger Jahre im Blick.

Heute ist die neue Unordnung längst da. Anders als Huntington vermutet hatte, fanden und finden die Konflikte nicht nur an den, wie er sich ausdrückte, »blutigen Grenzen« der islamischen Zivilisation zu ihren jeweiligen Nach­barzivilisationen statt – wie etwa derzeit im Sudan oder in Mali. Chinas Wirtschaftsmacht ist tatsächlich beträchtlich gewachsen und die westlich-liberale Demokratie gilt kaum noch als das Erfolgsmodell, das früher oder später die ganze Welt übernehmen werde. In Russland und der Türkei, die Huntington 1993 noch als »zerrissene Länder« bezeichnete, die sich noch nicht entschieden hätten, ob sie Teil des Westens seien oder einen eigenen Weg gehen sollten, haben sich die Kräfte durchgesetzt, die letzteres anstreben. Bei der identitären Selbstdefinition hat sowohl in Russland als auch in der Türkei die Religion eine zentrale Rolle gespielt.

Fukuyama ist heutzutage noch mehr in Vergessenheit geraten als Huntington. Gut ein Jahrzehnt lang stritten sich Intellektuelle, wer von beiden mehr oder weniger recht habe. Noch in den Jahren 2002 und 2003 argumentierten manche US-amerikanische Neokonservative, die durchaus im Geiste ­Fukuyamas dachten, man müsse das Vorankommen des Trecks der liberalen Demokratie mit etwas Waffengewalt forcieren – nämlich im Irak. Dann würde es auch endlich etwas mit der Demokratie im Nahen und Mittleren Osten. Fukuyma selbst hielt das für keine gute Idee – so wie ein paar Jahre später die Mehrheit der US-Wählerinnen und -Wähler, die unter anderem deshalb Barack Obama, einen erklärten Gegner des Irak-Kriegs, zum Präsidenten wählten. Vor einem militärischen Demokratieexport hatte Huntington, dem später manchmal unterstellt wurde, sein Konzept habe die Regierung George W. Bushs zum Krieg inspiriert, bereits 1993 gewarnt. Der Westen, so schrieb er damals, dürfe nicht von der universellen Gültigkeit seiner Werte ausgehen, das sei kontraproduktiv.

Mehr Demokratisierung würde nicht unbedingt zum Sieg der liberalen Demokratie führen, warnte Huntington.

In mancher Hinsicht war es eher Obama, der Huntingtons Ratschlägen folgte: In seiner Rede an der al-Azhar-Universität in Kairo im Jahr 2009 kündigte er an, zukünftig würden die USA sich aus der Region zurückziehen und die Menschen dort selbst entscheiden lassen, wie sie sich regieren wollten.

Der Westen müsse, so Huntington 1993, ein profundes Verständnis der religiösen und philosophischen Annahmen entwickeln, die den anderen Zivilisationen zugrunde liegen, und der Art, wie die Menschen dieser Zivilisationen ihre Interessen sähen. Es gehe darum, Gemeinsamkeiten zwischen dem Westen und anderen Zivilisationen zu identifizieren. Nebenbei riet er aber auch dem Westen, seine Interessen zu wahren: durch Aufrechterhaltung der eigenen militärischen Vormachtstellung vor allem in Ost- und Südostasien, durch das gezielte Ausnutzen von Differenzen seiner Gegner und durch die Stärkung von interna­tionalen Institutionen. Zuallererst sei es aber im Interesse des Westens, größere Kooperation und Einheit innerhalb der eigenen Zivilisation voranzutreiben. Von Donald Trumps Präsidentschaft und dessen Slogan »America first« – der, wie der New Yorker im ­Januar konsterniert feststellte, in Wahrheit »Amerika alone« bedeutete – davon wäre Huntington vermutlich wenig begeistert gewesen.

Huntington gerät in Vergessenheit

Die Kontroverse darüber, ob Fukuyama oder Huntington recht hatte, endete erst 2011 mit dem sogenannten arabischen Frühling – der letztlich beide widerlegte. Beim Ausbruch der Revolten frohlockten manche liberale und neokonservative Beobachter noch, der im mesopotamischen Morast festgefahrene Treck der Demokratie sei wieder in die Gänge gekommen. Schon wenig später schien Huntington wieder aktuell. Die Islamisten pro­fitierten vielerorts von den Umbrüchen. Huntington hatte dies als »demokratisches Paradox« bezeichnet. Mehr Demokratisierung werde nicht unbedingt zum Sieg der liberalen Demokratie führen, sondern häufig eher ihre Gegner an die Macht bringen. Genau dies schien bei den ersten demokratischen Wahlen in Ägypten, dem bevölkerungsreichsten Land, in dem eine der arabischen Revolten zum Regimewechsel geführt hatte, passiert zu sein: Die Muslimbruderschaft gewann.

Nur hielt das, was eine Weile nach ­einer Serie islamistischer Machtübernahmen aussah, nicht lang an. In Ägypten stürzte das Militär die islamistische Regierung. In anderen arabischen Staaten wie Libyen, Syrien und dem Jemen halten sich islamistische Bürgerkriegsparteien, doch hat keine die Kontrolle über das ganze Land gewinnen können – derzeit verlieren sie eher an Macht.

In Syrien habe sich gezeigt, so argumentierte der Publizist Josef Joffe im Dezember 2016 in der Wochenzeitung Die Zeit, dass Huntington sich geirrt habe. Die von Huntington zunächst 1993 für möglich gehaltene, wenn auch drei Jahre später wieder relativierte Vorstellung einer islamischen Einheitsfront gegen den Westen habe sich nie eingestellt.

Gewannen unter den bewaffneten syrischen Aufständischen sunnitische Islamisten die Oberhand, so waren ihre Gegner in den Bodenkämpfen seit einigen Jahren überwiegend schiitische Islamisten, oft unter iranischem Kommando. So zeigt der Krieg in Syrien nicht etwa die »blutigen Grenzen des Islam« (Huntington) zum Westen auf, der sich nur marginal einmischte, sondern einen machtpolitischen Konflikt zweier Regionalmächte, Iran und Saudi-Arabien, die sich jeweils religiös legitimieren.

Das Schema eines »Kampfs der Kulturen« kann auch nicht die neo­osmanische Interventionspolitik Recep Tayyip Erdoğans erklären, die sunnitisch-islamisch, aber auch nationalistisch und neoimperial legitimiert wird. Und welcher »Kultur« wäre die PKK zuzuordnen? Russland kann seine Parteinahme in Balkan-Konflikten mit der Notwendigkeit »orthodoxer Solidarität« legitimieren, nicht jedoch die Intervention in Syrien. Auch das iranisch-russische Bündnis lässt sich schwerlich kulturalistisch deuten.

Ideologie hat in Syrien für alle Kriegsparteien Bedeutung, in ein Schema wie das von Huntington lässt sich der Konflikt jedoch nicht pressen. Unklar bleibt zudem, wie die machtpolitisch marginalisierte, aber weiterhin Millionen zählende arabische Demokratiebewegung einzuordnen wäre. Verwestlichte Verräter »ihrer« Zivilisation?

Die arabischen Aufstände führten weder – mit der Ausnahme des kleinen Tunesien – zu einer Demokratisierung und Liberalisierung, noch kam die Region zu einem islamischen Block zusammen. Letzteres wird wohl auch der Grund sein, warum nicht nur von Fukuyama, sondern auch von Huntington momentan nicht mehr viel die Rede ist. Der Islam gegen den Westen, das war der Aspekt seiner These, für den Huntington am meisten Aufmerksamkeit bekam – doch dieser Gegensatz prägt den Nahen und Mittleren Osten gegenwärtig nicht.

Was von Huntington bleibt

Die Herausforderung für Linke war immer, dass Huntington sie in seinem Werk schlicht nicht beachtet hat. Er verstand sich als Politikberater des Westens beziehungsweise der politischen Führungsschicht der Vereinigten Staaten – diese besteht nicht aus Linken, bestenfalls sind es Liberale. Aus heutiger Sicht war Huntington ein außen­politisch eher moderater US-amerikanischer Konservativer. Trotzdem können Linke etwas von ihm lernen: Kultur und Religion sind politisch nicht zu unterschätzende Kräfte. Die von Huntington prognostizierte kulturell-religiöse Blockbildung mag im Nahen Osten nicht eingetreten sein, aber das Bemühen, sich als Führungsmacht ­einer solchen Zivilisation zu etablieren, ist in Russland und der Türkei ­erkennbar.

Mit seinem Buch »Who Are We? Die Krise der amerikanischen Identität« schlug Samuel P. Huntington im Jahr 2004 einen fremdenfeindlichen Ton gegen Einwanderung an. Der Kampf der Kulturen fand dem Buch zufolge im US-amerikanischen »homeland« statt. Die Gefahr sah Huntington in der hispanischen Einwanderung aus Mexiko. Diese, gefährde nämlich die »amerikanische Identität«.

Oft sind die kulturell-religiösen Kräfte in einer Gesellschaft sehr viel leichter zu mobilisieren als jene sozial bestimmten Schichten, auf die sich Linke stützen müssen. Das Problem ist: Linke können, wenn sie links bleiben wollen, nicht einfach auf die Kräfte des Kulturalismus setzen. Sie müssen in einer kapitalistischen Welt auf die Politisierung des Sozialen setzen, auch wenn dies unter den gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnissen nicht immer opportun erscheinen mag. Wenn Re­ligion und Kultur die Kategorien sind, mit denen die Mehrheit sich mobili­sieren lässt, müssen Linke lernen, damit umzugehen, dass sie in der Minderheit sind – und dass sie eben nicht 99 Prozent der Gesellschaft repräsentieren, wie es 2011 die »Occupy«-Bewegung glauben machen wollte. Die Linke mag klein und schwach sein, aber wenn die Welt in mehr oder minder kohärente politische Blöcke zerfällt, darf sie gerade nicht auf den Universalismus der menschlichen Emanzipation verzichten.