Chloé Valdary von der Organisation »Zioness«

»Man kann progressiv und zionistisch sein«

Chloé Valdary ist eine US-amerikanische Autorin. Als Studentin gründete sie eine proisraelische Gruppe und setzt sich seither gegen Antisemitismus und Rassismus ein. Wir sprachen mit ihr über Antisemitismus und Critical Whiteness in den USA.
Interview Von

Bei den Midterm-Wahlen in den USA haben die Demokraten die Mehrheit im Repräsentantenhaus zurückgewonnen. Einige der gewählten Abgeordneten, darunter gefeierte Hoffnungsträgerinnen wie Ilhan Omar, Rashida Tlaib und Alexandria Ocasio-Cortez, haben sich negativ über Israel geäußert, nennen Israel einen »Apartheidsstaat« oder unterstützen die BDS-Bewegung. Sorgen Sie sich um die Demokratische Partei? Und wie begegnen Sie Israelfeindschaft in linken und progres­siven Kreisen?
Beruflich ist es mein Schwerpunkt, junge Jüdinnen und Juden mit guten Informationen über Israel zu versorgen. Wenn diese aus ihren oft jüdischen Schulen ans College gehen, werden sie nicht selten zum ersten Mal mit antiisraelischer Kritik konfrontiert und wissen nicht, wie sie reagieren können. Wenn es um die allgemeine politische Öffentlichkeit geht, bin ich im Vorstand einer Organisation namens »Zioness«, die sich als Ort für progressive Zionisten versteht. Es geht darum, zu zeigen, dass man zugleich progressiv und zionistisch sein kann.

Wir haben beispielsweise an Demonstrationen teilgenommen, bei denen Zionisten von den Organisatoren nicht erwünscht waren. Wir haben ein Zeichen gegen diese angebliche Unvereinbarkeit gesetzt, und wenn man uns keinen Tisch bereitgestellt hat, haben wir selbst ­einen mitgebracht. Wir haben am »March for Racial Justice« in Brooklyn teilgenommen, wo wir von Linda Sarsour und Tamika Mallory angefeindet und angeschrien wurden, und wir ­waren beim letztjährigen »Women’s March« dabei.

»Menschliches Verhalten wird auf eine Rasseneigenschaft reduziert, das ist gefährlich.«

Was die Wahl einiger antiisraelischer Demokraten angeht – das ist eine sehr beunruhigende Entwicklung, und man muss beobachten, wie innerhalb der Demokratischen Partei damit umgegangen wird. Wird der Einfluss eher tradi­tioneller Demokraten, die in der Regel proisraelisch sind, genügen, um die radikalen antiisraelischen Kräfte zu mäßigen?

Die direkte politische Macht der antiisraelischen Abgeordneten ist vermutlich begrenzt, selbst wenn sie zum Beispiel gegen Hilfsmaßnahmen für Israel stimmen. Die größere Frage ist die nach dem kulturellen Einfluss solcher Positionen.

Der nächste »Women’s March« ist für Januar 2019 geplant. Die Kritik an der Demonstration wächst. Die Schauspielerin und #metoo-Initiatorin Alyssa Milano hat die Organisatorinnen aufgefordert, sich gegen Antisemitismus zu positionieren, andernfalls werde sie nicht als Rednerin teilnehmen. Trägt ihre Arbeit Früchte, und was planen Sie für den »Women’s March«?
Derzeit planen wir, am Marsch teilzunehmen, aber das kann sich bis Januar noch ändern. Die Kritik von Alyssa Milano bezieht sich darauf, dass die Ko-Organisatorinnen Linda Sarsour und Tamika Mallory den wahnsinnigen antisemitischen Hetzer Louis Farrakhan unterstützen, der auch Hass gegen andere Gruppen verbreitet, etwa gegen LGBT oder gegen Weiße. Nun gibt es eine interessante Debatte im Umfeld des »Women’s March«, bei der einige fragen, wie es Alyssa Milano als weiße Frau wagen könne, persons of color zu widersprechen. Das ist für mich eine extrem oberflächliche und nicht hilfreiche Sicht der Dinge. Andererseits gibt es viele weiter links stehende Menschen, die besonders nach dem Anschlag auf die Synagoge in Pittsburgh, bei dem ein Rechtsextremer elf Jüdinnen und Juden ermordete, die Organisatorinnen des »Women’s March« kri­tisieren und sich gegen Antisemitismus aussprechen. Es hat nun eine sehr schwache Stellungnahme des »Women’s March« gegeben, die Farrakhans Angriffe auf Juden nicht klar benennt und verurteilt. Diese sehr unspezifische und unverbindliche Haltung führte zu wachsender Kritik am »Women’s March«.

Wie kann es sein, dass jemand wie Farrakhan, der Anführer der afroamerikanischen Bewegung »Nation of Islam«, noch so einflussreich ist?
Die Haltung, eine person of color, die sich hasserfüllt und diskriminierend äußert, nur sehr zögerlich zu kritisieren, ist weit verbreitet. Der »Women’s March« benötigt aber eine starke und integre Führung, um die »Nation of Islam« zu verurteilen. Wenn Malcom X sich von der »Nation of Islam« distanzieren konnte – was viele Menschen heute vergessen haben und wofür er mit dem Leben bezahlen musste –, dann sollten auch die Anführerinnen des »Women’s March« im Jahr 2018 dazu in der Lage sein.

Welche Rolle spielt die an Universitäten und in sozialen Bewegungen verbreitete Theorie der Intersektionalität bei der Unfähigkeit, Anti­semitismus zu verurteilen?
Intersektionalität geht von drei Annahmen aus, eine davon ist wahr, zwei davon sind gefährlich falsch. Die wahre Annahme ist, dass man mehrfach ­diskriminiert werden kann.

Ich selbst kann als Frau und als person of color diskriminiert werden. Diese Formen von Diskriminierung überschneiden sich, und ihr Zusammenspiel führt zu einer neuen Erfahrung von Diskriminierung. Falsch und gefährlich ist die Annahme, dass Macht Grundlage und Motivation jeder menschlicher Interaktion sei. Wenn ein weißer männlicher Freund mit mir ins Kino gehen will, geht es ihm demnach im Kern um Macht, was offensichtlich falsch ist.

Die dritte Annahme ist die eines rassischen Essentialismus. Dadurch, dass man weiß oder schwarz ist, verhält man sich auf bestimmte Weise. Wenn ein Weißer eine Anspruchshaltung demonstriert, dann ist das kein Impuls, den alle Menschen von Zeit zu Zeit haben, sondern eine weiße Eigenschaft. Menschliches Verhalten wird auf eine Rasseneigenschaft reduziert, das ist ­gefährlich und etwas, gegen das wir zu Zeiten der Jim-Crow-Gesetze (Gesetze in den USA, die die Rassentrennung festschrieben, Anm. d. Red.) gekämpft haben. Es ging um Entmenschlichung, und hier gibt es auch Berührungspunkte zu antiisraelischen Haltungen. Wenn man Menschen nur noch als ­Karikaturen und Repräsentanten politischer Gebilde sieht statt als Menschen aus Fleisch und Blut, wird man sich ihnen gegenüber feindlich und abwertend verhalten. Es kann dann keinen egalitären politischen Raum geben, und das ist der große Rahmen von Campusdebatten über Israel und auch andere Themen.

Dieser Essentialismus ist eine unglaublich oberflächliche Sicht auf eine sehr komplexe Welt und ihre ebenso komplexe Geschichte. Wenn man die Welt wortwörtlich schwarz und weiß sieht, wird man auch Juden als »weiß« betrachten, und damit als Teil der unterdrückenden Klasse. Israel ist folglich Teil des Unterdrückungssystems, und alles im Kampf gegen die »Unterdrückung« erscheint legitim. Menschen mit dieser Weltsicht laufen schon deshalb Gefahr, sich antisemitisch zu verhalten, weil sie kein Verständnis von Antisemitismus haben. Antisemitismus ist eine Art von Rassismus, die nach oben schlägt, die Juden als zugleich ­unmenschlich und übermenschlich beschreibt, als Teil einer bösartigen Weltherrschaft. Wenn man nur ein karikaturhaftes Schwarz-weiß-Verständnis von Rassismus hat, kann man Antisemitismus nicht verstehen. Intersek­tionalität verbindet sich so mit Antisemitismus und Israelhass und verstärkt diese Haltungen.

Israel droht in den USA im Zuge der politischen Polarisierung von einem überparteilichen zu einem parteilichen Thema zu werden. Was entgegnen Sie etwa, wenn jemand sagt: »Ich habe mit Trump viele Probleme, aber er unterstützt Israel, ist hart gegenüber dem Iran, während die Linke in den USA und weltweit offen israelfeindlich ist«?
Ich bin keine Ein-Thema-Wählerin, und diese Frage führt zurück zum vorhin erwähnten Konzept von Integrität. Es können mehrere Dinge gleichzeitig wahr sein. Es ist wahr, dass die Politik von Präsident Trump in v­ielerlei Hinsicht gut für Israel war. Gleichzeitig hat die Rhetorik, die aus dem Weißen Haus kommt, zur Polarisierung der Gesellschaft und zur Stärkung der Alt-Right beigetragen.

Überzeugte Republikaner sind nicht die Zielgruppe von »Zioness«, wir richten uns an Demokraten und Progressive, die nicht zu dem Schluss kommen, Trump zu wählen. Sie sind frustriert, dass ihre Partei oder auch der »Women’s March« von antiisraelischen Kräften übernommen wird. Wir sagen ihnen, dass sie deshalb nicht zu Hause bleiben müssen, sondern dass es mehr progressive Unterstützer Israels gibt, als sie denken. Wir bieten eine Plattform für gemeinsame Aktionen, durch die Teilnehmer sich ermächtigt und ermutigt fühlen, statt zu resignieren. Es ist möglich, die Realität positiv zu verändern.

In Ihren Texten haben Sie an der Debatte um die Berufung von Brett Kavanaugh zum Richter am Obersten Gerichtshof kritisiert, dass dieser als »wütender weißer Mann« beschrieben wurde. Was hat Sie daran gestört?
Meine Kritik war, dass Wut eine menschliche Emotion ist, die nicht mit Rasse oder Geschlecht zusammenhängt. Als Bill Cosby wegen sexueller Übergriffe verurteilt wurde, war er auch wütend, aber niemand hat ihn als »wütenden schwarzen Mann« beschrieben, und es war klar, dass das Verhalten einzelner Menschen einer bestimmten Kategorie nicht für alle in dieser Kategorie steht. Diese vorhin beschriebene neue Welle von rassischer Essentialisierung breitet sich in progressiven Kreisen immer stärker aus und wird zur Analyse politischer Entwicklungen genutzt.

Man muss nicht weiß oder männlich sein, um wütend zu sein, aber sind Geschlecht oder Hautfarbe nicht dennoch wirkmächtige Kategorien, die ihre Berechtigung haben, wenn es um die Analyse und Kritik von Gewalt, Anspruchshaltung, Ignoranz, Diskriminierung, Privilegien und ähnlicher Dinge geht?
Ich lehne diese Kategorien nicht ab, aber das Problem beginnt, wenn die Beschreibung zur Ächtung wird. Kavanaugh wurde nicht als weißer Mann voller Wut und Anspruchshaltung beschrieben, sondern es wurde gesagt, dass er aufgrund seines Weißseins sich so verhalten hat. Das ist eine ganz ­andere Analyse. Es ist fast das Gleiche, was die Rechte macht, wenn sie einen kriminellen Schwarzen sieht und sein Schwarzsein als Erklärung für das Verbrechen heranzieht. Solche Stereotype können von links genauso gefährlich sein wie von rechts, wenn etwa gesagt wird, dass wütend und selbstherrlich zu sein Weißsein definiere.

Welche Strategien schlagen Sie gegen solche Entwicklungen und Denkweisen vor?
Ich habe die Theorie der Verzauberung (Theory of Enchantment) entwickelt, die von mehreren Annahmen ausgeht. Das negative Israel-Bild am Campus ist demnach beispielsweise das Produkt des Rahmens, in dem die Diskussion stattfindet. Dieser Rahmen ist Antipathie, Unwillen, anderen offen zu begegnen, Vorurteil auf der Grundlage von Geschlecht oder Hautfarbe. Ich möchte diesen Rahmen angreifen. Ich frage dabei nicht primär, wie man Antisemitismus bekämpfen kann, sondern wie man Menschen dazu bringen kann, sich in Israelis zu verlieben. Ich frage nicht, wie man Hass stoppt, sondern wie man Menschen dazu bringt zu ­lieben. Beides sind wichtige, aber fundamental unterschiedliche Fragen. Menschen, besonders junge Menschen, lieben Popkultur, lieben Künstler oder auch entsprechende Marken. Menschen lieben Popkultur, weil sie darin sich selbst und ihr Potential reflektiert sehen. Das ist die Essenz meiner Theorie der Verzauberung, es geht um Inhalte, bei denen Menschen sich selbst und ihr Potential erkennen. Darauf aufbauend geht es dann um Strategien zur Konfliktlösung.

Israelis und Paläs­tinenser müssen etwa als Menschen, nicht als politische Abstraktionen betrachtet werden, sie dürfen nicht dämonisiert oder vereinheitlicht werden. Unsere Kritik soll zu Verbesserung und Ermächtigung führen, nicht zu Zerstörung. Unser Handeln muss von Liebe und Mitgefühl bestimmt sein. Wenn wir etwa auf dem Campus angegriffen werden, kritisieren wir das Verhalten als diskriminierend und von Vorurteilen geprägt, aber wir laden die Person danach ein, mit uns das Brot zu brechen und in Kontakt zu treten, um die zuvor hyperpolitisierte Konversation wieder zu vermenschlichen. Es geht nicht darum, Kritiker von allen unseren Positionen im israelisch-palästinensischen Konflikt zu überzeugen, sondern darum, trotz grundlegender Meinungsverschiedenheiten Empathie wiederherzustellen.

Sie wollen Liebe für Israelis erzeugen, aber ist das nicht auch eine Verallgemeinerung, und ist die israelische Gesellschaft nicht ähnlich polarisiert wie die US-amerikanische?
Israel ist eine komplexe Gesellschaft, aber etwas, das sie gesünder macht als die US-amerikanische, ist der Umstand, dass Politik nicht alles ist, was sie antreibt, und nicht das einzige, worüber sich Menschen identifizieren. Wie Israelis mit den politischen Gräben, die sich nach dem Ende des Sechs­tagekriegs auftaten, und mit anderen Differenzen umgehen, ist faszinierend, und es gibt vieles, das wir von ihnen lernen könnten.
 

In den kommenden Tagen ist Chloé Valdary in Deutschland zu Besuch.

Am 25. November wird sie beim Deutschen Israelkongress in Frankfurt am Main sprechen. Am 26. November spricht sie bei einer Veranstaltung auf dem Campus Essen der Universität Duisburg-Essen und am 27. November an der Humboldt-Universität in Berlin über Antizionismus und Campus-Politik an US-Universitäten.

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