Essay - Feminismus in Algerien

Aufstand der Frauen

Algeriens Frauen kämpfen gegen den Kopftuchzwang und ein feudales Familienrecht. Sie verdienen unsere Solidarität.

Starke Frauen prägen die algerische Geschichte. Etwa Königin Dihya, die sich im 7. Jahrhundert den islamischen Eroberern entgegenstellte, oder Lalla Fadhma n’Soumer, unter deren Führung 1854 die französischen Eroberer geschlagen wurden. Auch am Befreiungskrieg gegen die französische Kolonialmacht in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts beteiligten sich viele Frauen. So zum Beispiel Akila Ouared, eine der weiblichen Ikonen des algerischen Unabhängigkeitskriegs. Sehr jung schloss sie sich dem FLN (Nationalen Befreiungsfront) an. Nach der Unabhängigkeit Algeriens 1962 ging ihr Kampf für die Freiheit weiter. Sie setzte sich für die Selbstbestimmung der Alge­rierinnen ein, vor allem als 1984 ein neues, Frauen diskriminierendes Familiengesetz installiert wurde. So gründete sie die ADPDF (Association de défense et de promotion des droits des femmes), einen Verein zur Förderung und Verteidigung der Frauenrechte, der sich unter anderem für die Einrichtung von juristischen Beratungsstellen für geschiedene Frauen einsetzte und die Gründung von Frauenkooperativen unterstützte.

Der patriarchale Anspruch der Kontrolle über den weiblichen Körper breitete sich peu à peu vom privaten in den öffentlichen Raum aus. 

57 Jahre nach der Unabhängigkeit demonstrieren die Algerier und ­Algerierinnen erneut gegen ein Herrschaftssystem, das sie erstickt und sie jeder Perspektive auf ein besseres und freieres Leben beraubt. Die heutigen algerischen Frauenrechtlerinnen wollen wie ihre Mütter endlich Gleichberechtigung. Ihr gemeinsames Ziel: Abschaffung des fundamentalistisch geprägten Familienrechts in ihrem Land.

Islamisierung des Rechts

Nachdem Frauen und Männer Seite an Seite für die Unabhängigkeit Al­geriens gekämpft hatten, galt es 1962  zunächst, das Land wiederaufzubauen. Die Frauenfrage müsse zunächst warten, hieß es damals. Die Gesetze der jungen Republik orientierten sich in einer ersten Phase an der französischen Gesetzgebung, wie etwa das Straf- und Zivilrecht, bis 1984 ein neues Familiengesetz in Kraft trat, das von der Sharia beeinflusst war: ein rückwärtsgewandtes, patriarchales Gesetz. Damit verschlechterte sich die Lage der Frauen dramatisch, ihre Unterlegenheit wurde gesetzlich festgeschrieben. Seit diesem Zeitpunkt waren die algerischen Frauen keine Bürgerinnen mehr, sondern Untertaninnen ihrer Männer.

Algerische Frauen waren plözlich keine Bürgerinnen mehr, sondern Untertaninnen ihrer Männer.

Mit der Einführung des Gesetzes erhielten Männer die Verfügungs­gewalt über ihre Frauen, was im praktischen Leben vielerlei bedeuten kann. So durfte die 28jährige Tassadit*, die von ihrem Ehemann bevormundet und auf grausame Art geschlagen wurde, nicht mehr ins Krankenhaus fahren, um ihr Baby untersuchen zu lassen. Ihr Ehemann drohte, sie zu verstoßen, falls sie ohne seine Erlaubnis das Haus verlassen sollte – selbst wenn ihr Bruder sie begleiten würde (Artikel 39: Pflicht, dem Ehemann zu gehorchen).

Yamina*, eine 38jährige Richterin, brauchte aufgrund dieses Gesetzes einen Wali, einen Vormund, um ihre Ehe zu schließen (Artikel 11: Männ­liche Vormundschaft bei der Eheschließung).

Nadia* musste es mit 51 Jahren hinnehmen, dass ihr Ehemann eine zweite Ehefrau nahm (Artikel 8: An­erkennung der Polygamie). Wäre sie nicht mit der neuen Vermählung einverstanden gewesen, hätte ihr Ehemann sie verstoßen dürfen (Artikel 48: Einseitige Scheidung/Verstoßung).

Diese Beispiele belegen die Aufnahme der Sharia in das Gesetz und demonstrieren die untergeordnete Stellung der Frau in der algerischen Gesellschaft. Aufgrund seiner Frauenfeindlichkeit nennen es die algerischen Feministinnen »das Gesetz der Ehrlosigkeit«.

Parallel zur Durchsetzung des Familiengesetzes erfolgte Anfang der achtziger Jahre eine Arabisierung und Islamisierung der Lehrpläne in den Schulen, um die Unterwerfung der Frauen von klein auf zu lehren. So wurde meine Generation im Unterricht auf die unterschiedlichen Geschlechterrollen der patriarchalen Gesellschaft eingeschworen. Bereits in der Grundschule lernte ich, dass der Vater einkaufen geht und der Sohn auf der Straße spielen darf, während Mutter und Tochter zu Hause kochen und putzen. Diese Bilder, mit denen ich in meinen Schulbüchern konfrontiert war, standen im Widerspruch zu dem Leben, das ich glück­licherweise zu Hause führte: Meine Mutter war nicht nur berufstätig; weil sie sich für die Rechte der Frauen engagierte, war sie auch sehr viel unterwegs. Mal hat sie den Einkauf erledigt, mal mein laizistisch denkender Vater. Für ihn war es selbstverständlich, sich auch um seine Töchter zu kümmern und für sie zu kochen. Nie wäre er auf die Idee gekommen, sich dadurch »entmännlicht« zu fühlen.

Viele meiner Freundinnen haben bis Ende der achtziger Jahre ebenso freiheitlich leben dürfen wie ich – trotz des gesellschaftlichen Druck. Doch der Einfluss eines nicht nur traditionellen, sondern auch fundamentalistischen Patriarchats wurde immer stärker. Ich erinnere mich an eine Begebenheit Anfang der neunziger Jahre, als meine Schulfreundin Chahida* immer wieder grundlos von ihrem jüngeren Bruder geschlagen wurde. Als ich sie fragte, weshalb sie sich nicht wehre, antwortete sie mir: »Er ist ein Junge, was denkst du, auf welcher Seite meine Eltern stehen würden?« Als ich einmal aufstand, seinen Arm festhielt und ihn mit strengem Tonfall warnte, nie wieder seine Schwester in meiner Anwesenheit zu schlagen, musste mir Chahida auf ­Befehl ihres Vaters die Freundschaft kündigen. Solche Szenen der häuslichen Gewalt häuften sich mit den Jahren in vielen algerischen Familien.

Der patriarchale Anspruch der Kontrolle über den Körper der Frau übertrug sich peu à peu vom privaten auch in den öffentlichen Raum. Damit veränderte sich auch das Verhalten der Männer auf den Straßen. Beleidigungen aufgrund unserer Zugehörigkeit zum »falschen, minderwertigen« Geschlecht bis hin zu sexuellen Belästigungen begleiteten mich und meine Schulfreundinnen täglich auf dem Schulweg.

Was konnten wir tun? Nichts. Die Schulbücher, das Gesetz und die Sharia standen auf der Seite dieser Männer.

Kampf an zwei Fronten

Der moderne algerische Feminismus hat seine Wurzeln in den vierziger Jahren. Doch erst mit der Einführung des von der Sharia über­formten Familiengesetzes entstanden erstmals auch größere öffent­liche Proteste und nach dem Volks­aufstand gegen das Einparteiensystem vom Oktober 1988 wurden weitere algerische Frauenvereine gebildet. Die Frauenbewegung organisierte sich und wurde stets von zwei Seiten ­bedroht: von der patriarchalen Gesellschaft mit ihren Repressalien, insbesonderem dem frauendiskriminierenden Familiengesetz; und von den Terrordrohungen der Islamisten. Aus diesem Grund konnten die Frauen nur unter strengen Sicherheitsvorkehrungen ihre Bewegung aufbauen. Viele Treffen fanden heimlich statt, damit sie nicht von konservativen männlichen ­Verwandten oder islamistischen Gruppierungen entdeckt wurden.

Algerien II

Mit Freddy Mercury für die Freiheit: Studentinnen und Studenten demonstrieren am 5. März 2019 in Algier.

Bild:
Reuters / Ramzi Boudina

Der Volksaufstand im Oktober 1988 wurde von einem Tag auf den anderen von den Islamisten ver­einnahmt. Plötzlich waren es nicht mehr junge Frauen und Männer, die nach Demokratie und Freiheit rufend auf der Straße demonstrierten, sondern hauptsächlich Männer mit Bärten und Djellabas, die »Allahu Akbar« schrien. Parallel zu der demokratischen Bewegung bildeten sich islamistische Parteien und Milizen. In diesen dunklen Jahren des algerischen Bürgerkriegs waren vor allem Intellektuelle und politische Aktivisten und Aktivistinnen Ziel des religiös-ideologischen Terrors. Besonders traf es jedoch die algerischen Frauen, die zur primären Beute der Islamisten wurden. Wir erlebten Ernied­rigung, Belästigung, Vergewaltigung, schließlich stellten uns die Islamisten vor die Wahl: »Entweder ihr ändert eure Essgewohnheiten (Fasten, Einhalten der Speisevorschriften) und euren Kleidungsstil, oder ihr müsst euch entscheiden zwischen Koffer und Sarg«. Konkret bedeutete das: sich unterwerfen, auswandern oder sterben. Bis heute gehören furchtbare Übergriffe bis hin zu Kidnapping, Gruppenvergewaltigung und Verbrennung zum Alltag algerischer Frauen.

Diese Gewalt gegen Frauen befördert das Familiengesetz, auf das sich jeder Mann berufen konnte und immer noch kann. Dazu kamen die Predigten der Fundamentalisten in Moscheen und im Fernsehen sowie die Indoktrination in den Schulen. Die, die nicht fastete, nicht betete, die sich »unehrenhaft« kleidete, die die »Ehre« der Familie gefährdete, die sich nicht an die neuen islamischen Vorschriften hielt, erwartete die Hölle. Damit ist nicht nur die ­bereits beschriebene Hölle auf Erden gemeint; man darf nicht vergessen, dass viele Musliminnen tatsächlich an die Hölle glauben und große Angst vor dieser Bestrafung haben. So eroberte eine Kultur der Angst und der Scham die gesamte Gesellschaft. Meine Großmutter, die selbst sehr religiös war, wunderte sich über diese neuen, archaischen Regeln. Immer wieder fragte sie: »Was ist das für ein Import-Islam? Als ob ich die vergangenen 74 Jahre keine Muslimin gewesen wäre!«

Unzählige Grausamkeiten wurden im Namen unserer instrumentalisierten Religion ausgeübt. Aber unser Wille, wie der der algerischen Freiheitskämpferinnen, ein Leben frei von jeglicher Bevormundung und jeglichem Patriarchat aufzubauen, ließ sich nicht brechen. Sie blieben auf ihre Weise standhaft und nutzten jede noch so kleine Möglichkeit zum Widerstand. Gegen den Kopftuchzwang wehrten sich die jungen Frauen, indem sie zum Beispiel roten Lippenstift trugen. Selbst so kleine Taten wurden zur Waffe des Widerstands, die auch meine ältere Schwester einsetzte. Doch nach der Hijab-Fatwa algerischer Islamisten 1994 ermordeten Fanatiker mehrere algerische Mädchen und Frauen, die sich weigerten, sich zu verschleiern.

Nach diesem dunklen Jahrzehnt des islamistischen Terrors in den neunziger Jahren mussten die Algerierinnen mit ihren Forderungen nach mehr Gleichberechtigung erneut warten. Wieder einmal hieß es: Das Land müsse sich erst erholen, es gebe momentan Wichtigeres zu tun. So wurde erst 2005 die Gehorsamspflicht der Frau gegenüber dem Mann abgeschafft – zumindest auf dem Papier. Ebenso wurde die Eheschließung durch die Stellvertretung des Wali, des Vormunds der Frau, aufgehoben und durch eine Bekundung des gegenseitigen Einvernehmens ersetzt. Die Voraussetzungen für Polygamie wurden verschärft und geschiedenen, verstoßenen Mütter wenigstens so lange das Sorgerecht belassen, bis sie wieder heirateten.

Jedes Kopftuch in Europa schadet dem Freiheitskampf der Frauen in der islamischen Welt.

2014 wurden weitere Fortschritte, zumindest formaljuristisch, erzielt: Die Diskriminierung der Frau wurde nun durch das Strafrecht geahndet, und Frauen, die von islamistischen Terroristen vergewaltigt worden waren, konnten erstmals eine Entschädigung beanspruchen. 2015 wurden psychische Gewalt und Beläs­tigung in der Öffentlichkeit unter Strafe gestellt, ein gewalttätiger Ehemann hatte mit einer Haftstrafe von bis zu 20 Jahren zu rechnen. Allerdings wurde hier eine »Verzeihungsklausel« eingefügt: Verzeiht die Frau dem Täter, wird er nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Wenn man den sozialen Druck bedenkt, dem die Frauen in muslimischen Gesellschaften unterliegen, ist es nicht schwer, sich vorzustellen, wie oft von dieser Klausel Gebrauch gemacht wird.

Trotzdem insgesamt beeindruckende Fortschritte – mag man meinen. Dass sie große Auswirkung auf die Gesellschaft gehabt hätten, konnte ich bei meinen letzten Aufenthalten in Algier jedoch nicht feststellen. Die Insignien des politischen Islam sind nach wie vor überall sichtbar, sei es auf der Straße oder bei privaten oder staatlichen Einrichtungen. Noch immer beklagen die algerischen Feministinnen die fehlende Distanzierung und Emanzipation der Gesellschaft von islamistischer Autorität, die nach wie vor viele staatliche Strukturen und Schulen durchdringt.

Deshalb haben die algerischen Feministinnen weiterhin allen Grund, sich auf der Straße bei den Protesten zu engagieren und ihre Belange im allgemeinen Freiheitskampf endlich einmal ganz vorne zu platzieren. Vor diesem Hintergrund wird wohl nachvollziehbar, wie sehr mir das deutsche Verständnis für den politischen Islam und für frauendiskriminierende Kleidung wie Kopftuch oder sogar Vollverschleierung widerstrebt.

Selbst im Westen

Mehr als 20 Jahre später führe ich den Kampf meiner Mutter fort – doch zu meinem Entsetzen hier in Europa. Oft höre ich in Deutschland von wohlmeinenden Menschen, teil­weise auch von Feministinnen, dass das Kopftuch ein Symbol sei und es aus Gründen der Toleranz und Religionsfreiheit akzeptiert werden ­solle. Es stimmt, dass das Kopftuch (auch) ein Symbol ist, aber es ist das Symbol des politischen Islam. Die Besetzung des öffentlichen Raumes mit kopftuchtragenden Frauen spielt eine bedeutende Rolle in der Strategie der Ausbreitung dieser Ideologie. Es sollen möglichst viele Frauen das Kopftuch tragen, denn das ist eine Demonstration der Macht des konservativ-orthodoxen Islam. Deshalb haben Islamisten wie Tariq Ramadan seine Verbreitung zur obersten Priorität erklärt. Es hat große politische Bedeutung: Als die ersten Kopftücher in der Öffentlichkeit in Frankreich auftauchten, wurde den algerischen Frauen, die das Kopftuch ablehnten, gesagt: »Seht, selbst im Westen verschleiern sich die Frauen!«

Jedes Kopftuch in Europa schadet dem Freiheitskampf der Frauen in der islamischen Welt. Denn die islamistische Verschleierung ist weder eine exotische Verkleidung noch ein Mode-Accessoire oder »nur ein Stück Stoff«. Hinter dem Verschleierungs­gebot verbirgt sich die Angst vor den Frauen, vor ihrem Körper, ihrer Freiheit und ihrer Sexualität. Das Gebot symbolisiert, dass der Körper der Frau Eigentum des Mannes, der Gemeinschaft und Allahs ist. Wie ein Leichentuch lässt der Schleier den weiblichen Körper verschwinden. Genau das sind die Erfahrungen der afghanischen, iranischen, saudi-arabischen oder auch der kurdischen Frauen, die den IS-Milizen entkommen konnten. Erinnert sei an Amel Zenoune und Katia Bengana, zwei junge Frauen, die in Algerien auf offener Straße ermordet wurden, weil sie studierten und das Tragen des Kopftuchs verweigert haben.

Das Kopftuch als Uniform eines unterdrückerischen Patriarchats, gegen das Frauen weltweit kämpfen, kann in Europa nicht plötzlich für Gleichberechtigung, Emanzipation und Selbstbestimmung stehen. Die Versuche, die Verschleierung ge­sellschaftsfähig zu machen, bedeuten die Banalisierung des Islamismus, das Tolerieren einer zutiefst frauenverachtenden Ideologie.

Einpassung in die Schamkultur

Muslimische Mädchen sind weltweit schon länger einer regelrechten Kopftuchpropaganda ausgesetzt, nicht nur in der Familie und Community. Internetkampagnen wie der Hashtag #nichtohnemeinkopftuch der »Generation Islam« sind keine neuen oder singulären Erscheinungen. Sogar mit einer eigenen Modebranche – Islamic und Modest Fashion – vermarkten sich junge muslimische Designerinnen als identitäre Rebellinnen. Unterstützt werden sie nicht nur von großen Modelabel, die die Symbole der Unterdrückung der muslimischen Frau als Marktlücke betrachten, sondern auch von Protagonisten der Kunstszene, die offensichtlich keine Bedenken haben, diesen offensichtlichen Sexismus und Rassismus zu protegieren.

Das Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt am Main inszeniert mit seiner umstrittenen Ausstellung »Contemporary Muslim Fashions« das Kopftuch als »cooles« oder »kostbares Accessoire«. Gefährlich an dieser Ausstellung ist, dass sie hauptsächlich kulturell geprägte Mode aus dem arabischen und asia­tischen Raum als »Muslim Fashion« präsentiert. So folgen die Kuratorinnen der Strategie der Islamisten und unterstützen eine Art Entkulturation in vielen Ländern: Sie vermengen spezifische kulturelle Traditionen mit islamisch-orthodoxen. Am Ende kann niemand mehr unterscheiden, was kulturell, religiös oder auch ideologisch ist.

Frauenrechte sind der Gradmesser einer Demokratie. Deshalb sind die Errungenschaften der Frauenbewegung nicht verhandelbar.

Selbst die Spielzeugindustrie hat sich dem Trend angepasst und produziert die »Kopftuch-Barbie«. Die Puppe trägt somit zur  Indoktrination von Mädchen, aber auch Jungen bei: Sie lernen, dass nur ein verschleiertes Mädchen ein gutes Mädchen ist. Selbst in den westlichen Medien ist deutlich zu spüren, wie stark die Einflussnahme des Islamismus bereits ist. In der Berichterstattung werden gerne verschleierte Frauen ab­gebildet, wenn von Musliminnen die Rede ist.

Inakzeptabel ist es, wenn sich bereits kleine Mädchen verhüllen sollen. Mädchen so früh zu sexualisieren, empfinde ich als Muslimin als zutiefst menschenverachtend, herabwürdigend und absolut inakzeptabel. Niemand sollte Kinder zu politisch-ideologischen Zwecken instrumentalisieren dürfen. Auch wenn es eine religiöse Vorschrift wäre – im Koran ist allerdings kein Hinweis darauf zu finden –, dürfte eine aufgeklärte Gesellschast diese Kindeswohlverletzung nicht tolerieren.

Nicht nur in Deutschland wird das Mädchenkopftuch von liberalen Musliminnen zu Recht als Missbrauch angesehen. Auch Psychologen und Psychologinnen, Ärzte und Ärztinnen in muslimischen Ländern, wie Dr. Saïda Douki Dedieu und Dr. Hager Karray aus Tunesien, sprechen  in diesem Zusammenhang von einer »Misshandlung der Mädchen durch Autoritätspersonen« und berichten über die negativen gesundheitlichen und sozialen Folgen, die eine Früh­ver­schleierung von Mädchen haben kann. Hier darf es nicht um eine einseitig ausgelegte Religionsfreiheit gehen, vielmehr sollte das Wohl der Mädchen im Mittelpunkt stehen, ihre freie Entwicklung und Entfaltung. Der Schutz von Kindern vor Ideologie und Instrumentalisierung muss gewahrt bleiben.

Deshalb macht es mich fassungslos, dass wir heute in einem säkularen Staat die Möglichkeit in Erwägung ziehen, Kinder von verhüllten Lehrerinnen unterrichten zu lassen, die Mädchen, aber auch Jungen vorleben, dass Ungleichheit legitim ist, und dass es so etwas wie einen sündigen weiblichen Körper gibt, den man verhüllen müsse. Auch aus diesem Grund sehe ich das Berliner Neutralitätsgesetz als fundamentalen Baustein unserer aufgeklärten Grundordnung. Es sollte meines Erachtens bundesweit Anwendung finden.

Position gegen den Kulturrelativismus beziehen

Zurück nach Algerien: In den letzten 20 Jahren wurde das Kopftuch auch dort wieder durchgesetzt. Selbst kleine Mädchen werden nicht mehr ­davon verschont. Aus Protest gegen diese Entwicklung lancierten Anfang Februar dieses Jahres junge Algerierinnen in den sozialen Medien zwei Hashtags als Antwort auf den World Hijab Day: #GefangenImKopftuchInAlgerien und #NeinZumKinderkopftuchInAlgerien. Mit ihrem Appell wollen sie erreichen, dass möglichste viele Menschen erfahren, wie »das Kopftuch ihr Leben zerstört hat«. Sie schreiben: »Ihr sagt, der Hijab (Hidschāb) sei eine persönliche Freiheit? Warum habt ihr diesen Frauen ihre Freiheit gestohlen? Warum habt ihr ihnen ihre Kindheit geraubt? Warum habt ihr ihnen ihre Wahlfreiheit weggenommen? Warum verschleiert ihr sie gegen ihren Willen, als wären sie eure eigenen Sklavinnen? Selbst von der Sklavin verlangt der Islam nicht, dass sie Haar und Körper verdeckt. Ist das der Preis der Freiheit für eine Frau in Algerien? Ein Kopftuchzwang ab der Kindheit?«

In Europa verleugnen manche feministischen und linksliberalen Kräfte die frauenverachtenden Praktiken in der islamischen Welt, um den Rechten nicht in die Hände zu spielen.

Trotz der bereits erkämpften Reformen ist die algerische Straße weiterhin ein männliches Territorium, das für Frauen gefährlich ist. Das bloße Gehen auf der Straße kann schnell zu einem Hindernislauf werden. Deshalb waren viele überrascht, als Frauen jeden Alters bei den aktuellen Demonstrationen die Straßen eroberten. Am Internationalen Frauentag marschierten laut Schätzungen Millionen Algerierinnen Seite an Seite mit ihren Brüdern, Kommili­tonen und Kollegen, um gegen die korrupte Staatsmacht zu demons­trieren. Auch wenn einige es bevorzugt hätten, dass man an diesem Frauenkampftag einheitlich und ausschließlich gegen das herrschende System protestiert hätte – nach dem altbekannten Muster: Frauenforderungen können später gestellt werden –, kamen zahlreiche Frauen mit  Transparenten, die klare Forderungen formulierten: »Seit 1962 warten wir auf die Unabhängigkeit der Frau. Nun reicht’s!« oder »Abschaffung des frauendiskriminierenden Familiengesetzes« oder auch: »Ich bin aus Annaba, ich trage kein Kopftuch: Es ist kein Beweis für Sittsamkeit oder Keuschheit!«

Trotz der Gefahr für Leib und Leben erheben Algerierinnen auf der Straße oder in den sozialen Medien in dieser angespannten politischen Situation ihre Stimme gegen das staatliche, das traditionelle und das religiöse Patriarchat. In den letzten Wochen bereiteten die bereits erwähnten jungen Algerierinnen in einer geheimen Online-Gruppe die Kampagne zur Abschaffung des Gesetzes der Ehrlosigkeit vor, die am 29. März 2019 begann. Dieses Mal sollte die Aktion nicht nur online stattfinden, sondern auch im öffentlichen Raum. In Algier hängten Aktivis­tinnen Plakate mit buntem Pop-Art-Hintergrund auf, auf denen sie diskriminierende Paragraphen aus dem Familiengesetz anprangerten. Ziel der Kampagne ist es, diejenigen, die das Gesetz nicht kennen, darüber zu informieren und für seine Abschaffung zu werben. Berichtet wurde von Angriffen junger Männer, die den Protest der Frauen als antimuslimische Kundgebung diffamierten. Am Abend nach der Aktion setzte in den sozialen Medien eine Hetzjagd gegen unterschiedliche feministische Gruppen ein. Sie erhielten zahlreiche Drohungen.

Glücklicherweise haben sich aber auch sehr viele Menschen, sowohl Männer als auch Frauen, mit den Frauenrechtlerinnen öffentlich solidarisiert. Die aggressiven konservativen Männer sind zwar da, heißt es oft, aber sie sind keine Mehrheit unter den Demonstranten. Zudem wurde dazu aufgerufen, solche Männer aus den Demonstrationen aus­zuschließen, denn die Bewegung soll friedlich verlaufen, und auch Frauen gehören gleichberechtigt wie Männer zur Bevölkerung.

Und sie marschieren weiter. Das ist mutig, denn jeder weiß, dass diese organisierten Demonstrantinnen wirklich von fanatischen Männern verfolgt werden können. Ihre Botschaft: Jeder soll wissen, dass es keine Demokratie, keine freie Gesellschaft geben kann, wenn die Frauen nicht selbstbestimmt und gleichberechtigt sind. Viele Demonstrantinnen sind nicht mehr bereit, länger zu warten, ein Leben in Würde zu fordern. Dazu schrieb die algerische Frauenrechtlerin Wassyla Tamzali vor kurzem: »­Irren Sie sich nicht, der Kampf der Frauen gilt auch der Befreiung der Männer, nicht nur vom 5. Mandat (des Präsidenten), sondern auch vom ältesten Mandat, dem Patriarchat.«

Und in Deutschland und anderen europäischen Ländern? Hier über­sehen oder leugnen manche feministischen oder linksliberalen Kräfte frauenverachtende Praktiken, um den Rechten nicht in die Hände zu spielen. Sie betreiben einen krassen kulturellen Relativismus und messen mit zweierlei Maß. Man kann nicht für sich selbst Gleichheit und Freiheit fordern und gleichzeitig bei anderen Unfreiheit und Bevormundung akzeptieren! Warum sollten für mich, eine muslimische Deutsche, andere Rechte und Pflichten gelten als für eine nichtmuslimische Deutsche? Den einen Rechte zuzu­gestehen, während man den anderen diese vorenthält, ist eine Denkweise, die dem identitären Denken der Islamisten gleicht und den Gedanken universaler Menschenrechte ablehnt.

Sich einem rückwärtsgewandten Islamverständnis zu öffnen, ist keine Toleranz, sondern Verrat an Millionen von Frauen, die in muslimischen Ländern für ihre Freiheit und gegen den Fundamentalismus kämpfen. Wir sollten den muslimischen Frauen weder im Westen noch in den muslimisch geprägten Gesellschaften in den Rücken fallen.

Einigkeit besteht darüber, dass Frauenrechte der Gradmesser einer Demokratie sind. Deshalb sind für mich die Errungenschaften der Aufklärung und der Frauenbewegung nicht verhandelbar und müssen von Frauen und für alle Frauen gleichermaßen verteidigt werden. Von der Generation meiner Mutter, von den algerischen Kämpferinnen habe ich bereits als junges Mädchen gelernt, dass in angespannten Zeiten der universale und säkulare Feminismus unteilbar ist. Mit Spannung verfolge ich, wie die junge Generation im heutigen Algerien sich dafür einsetzt, dass die Unantastbarkeit der Würde der Frau und die Gleichberechtigung der Geschlechter anerkannt und gesetzlich festgeschrieben werden. Solidarisch mit ihrem Kampf wünsche ich den Töchtern von Dihya, Fadhma n’Soumer und Akila, dass sie eine zweite Republik mit einer Grundordnung erschaffen, die ihnen ermöglicht, frei von jeglichem religiösen Druck und Dogmatismus zu leben. Die Fürsprecherinnen des Kopftuchs in Deutschland seien daran erinnert, was Simone de Beauvoir geschrieben hat: »Der Unterdrücker wäre nicht so stark, wenn er keine Komplizen unter den Unterdrückten selbst hätte.«

* Die vollständigen Namen sind der Autorin bekannt.

Naïla Chikhi, wurde 1980 in Algier geboren und verließ ihre Heimat während des algerischen Bürgerkriegs. Heute lebt sie in Berlin.