18.04.2019
NSU in Bayern

Wie weiß-blau war der NSU?

Die Terrorgruppe NSU war in Bayern besonders gut vernetzt und beging dort die Hälfte ihrer Morde. Noch immer sind viele Fragen offen, der Ruf nach einem zweiten Untersuchungsausschuss wird lauter.

Ein »internationales Eck« sei das damals, 1999, gewesen, sagt Mehmet O. Griechische, türkische und italienische Kneipen und Läden hätten sich in dieser Gegend Nürnbergs konzentriert. In einer Herrentoilette habe er damals die dort abgelegte Taschenlampe gefunden und sie ausprobiert. Dann sei es dunkel geworden.

Mehmet O. ist Opfer des ersten rassistisch motivierten Sprengstoffanschlags der Terrororganisation »Nationalso­zialistischer Untergrund« (NSU) – wie die Bundes­anwaltschaft erst sehr viel später herausfand. Das ­Attentat passierte vor fast 20 Jahren, am 23. Juni 1999 – und immer noch merkt man dem Mann an, was es bedeutet, wenn einem mit 18 oder 19 Jahren das Leben unter den Füßen weg­gerissen wird. Schon lange lebt er nicht mehr in Nürnberg. Er berichtet von den Verletzungen, dem Gefühl von Unsicherheit, Misstrauen gegenüber an­deren – und dem Misstrauen, das ihm die damals ermittelnden Beamten entgegenbrachten. Irgendwann wurden die Ermittlungen eingestellt, O. verließ die fränkische Stadt, brach zahlreiche Kontakte ab, heiratete.

Fränkische Neonazis warnten möglicherweise ihre Kameraden im Untergrund.

Etwa 120 Interessierte kamen am ersten Aprilwochenende ins »Eine-Welt-Haus« nach München. Die Kampagne »Kein Schlussstrich« des Münchner »Bündnisses gegen Naziterror und Rassismus« informierte zum Thema NSU in Bayern. In dem Bundesland wurden die Hälfte der bekannten Morde des NSU begangen. Neben Mehmet O. und der Sprecherin des Bündnisses saßen zwei investigativ arbeitende Journalisten auf dem Podium, Robert Andreasch, der auch Autor der Jungle World ist, und Jonas Miller, der für den Bayerischen Rundfunk (BR) und andere Medien arbeitet. Sie wollen mehr Licht ins Dunkel bringen.
Der NSU verübte deutschlandweit zwischen 1999 und 2007 zahlreiche Verbrechen. Die Naziterroristen ermordeten, soweit bekannt ist, zehn Menschen – neun Migranten und eine Polizistin –, verübten insgesamt 43 Mordversuche und drei Sprengstoffanschläge (Nürnberg 1999, Köln 2001 und 2004). Hinzu kamen 15 Raubüberfälle.

Über die tatsächliche Größe des NSU und das Ausmaß seiner Vernetzung herrscht noch immer Unklarheit. Gerichtsfest wurden Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe als Mitglieder festgestellt, das sogenannte »Kerntrio«. Im von 2013 bis 2018 andauernden Prozess vor dem Oberlandesgericht in München wurden zudem Ralf Wohlleben, Carsten Schultze, Holger Gerlach und André Eminger wegen Beihilfehandlungen zu Haftstrafen zwischen zweieinhalb und zehn Jahren verurteilt. Gegen ihre Urteile haben sie Revision eingelegt. Das Umfeld des NSU wird auf 100 bis 200 Personen geschätzt. Darunter befinden sich dama­lige Funktionäre rechtsextremer Parteien, Nazi-Hooligans, Sympathisanten und Mitglieder des rechtsextremen Skinhead-Netzwerks »Blood & Honour« und der damit verbundenen Terror­organisation »Combat 18«. Der NSU handelte nach der von »Blood & Honour« propagierten Strategie des am Zellenprinzip angelehnten »führer­losen Widerstands«.

Sehr nahe am NSU waren immer wieder V-Personen verschiedener Verfassungsschutzämter, möglicherweise auch anderer Behörden – nach Andreaschs Recherchen handelte es sich um etwa 45 Quellen. Der hessische VS-Beamte Andreas Temme war bei dem NSU-Mord in Kassel am Tatort, will von der Tat aber nichts mitbekommen haben. In Bayern bewegte sich mit Kai Dalek ein Mann im Umfeld des NSU, der als verdeckt arbeitende Quelle in der extrem rechten Szene geführt wurde. Von sich selbst behauptete Dalek, nicht nur unter behördlichem Schutz zu stehen, sondern auch direkt für einen Dienst zu arbeiten. Ob als Beamter, Angestellter oder eine Art ausgelagerter Privatschnüffler, ist noch unklar. Aufgrund bestimmter Indizien erscheint es möglich, dass Dalek noch immer für den Staat arbeitet, eventuell als Informationsbeschaffer im Bereich Organisierte Kriminalität.

Einige wenige Investigativreporter wie Andreasch und Miller, Anwältinnen und Anwälte von Opfern, antifaschistische Archive, einige Abgeordnete aus dem Bundestag und Landtagen sowie weitere Menschen geben sich mit den bisherigen Ergebnissen nicht zufrieden. Klar ist mittlerweile, dass die Neonaziszenen in Franken und Altbayern bereits vor dem Abtauchen des NSU personell und organisatorisch verflochten waren. Nazi-Hooligans, Kameradschaftler und extrem rechte Unternehmer aus dem Westen und Osten waren sehr gut miteinander bekannt. Zumindest zeitweilige Verbindungen in die Rockerclubszene tauchten bei Recherchen ebenfalls immer wieder auf.

Auch Ermittlungsbehörden verfolgten zumindest zeitweise die weiß-blau-braune Spur. Allein in München hatte der NSU 88 Anschlagsziele ausgekundschaftet. Bekannte und Verwandte arbeiteten wiederholt in Altbayern, kommen also als Mitglieder des Netzwerks in Frage. Die Sonderkommission »Bosporus« führte 2006 sogenannte Gefährderansprachen bei neun Personen aus Bayern und Franken durch, unter ihnen ein Nürnberger Stadtrat, ein Rechtsanwalt und weitere der extrem rechten Szene verbundene Leute. Wie es in einem Aktenvermerk heißt, zeigte sich einer der Angesprochenen »sehr ungehalten«. Dabei handelte es sich um eben jenen »Troublemaker-Florian« aus Nürnberg, den sächsische Neonazis in einem ihrer Fanzines gegrüßt hatten und der mit seinen Kompagnons der Hooligantruppe »Red Devils« zu­geordnet werden kann. Möglicherweise warnten fränkische Neonazis ihre Kameraden im Untergrund. Denn nachdem die Ermittler die neun Personen kontaktiert hatten, brach die Serie bislang bekannter Morde ab. Viele Fragen sind in diesem Zusammenhang weiter offen. Andreasch und Miller forderten deshalb auf dem Podium ve­hement, einen zweiten Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtags zum NSU einzuberufen.

Auch in anderen Bundesländern gibt es noch viele offene Fragen und mauernde Behörden. In Hessen etwa gilt für eine 2014 erstellte Akte des Landesamts für Verfassungsschutz eine Sperrfrist von 120 Jahren. In dem 240 Seiten dicken Dokument listet der Inlandsgeheimdienst seine Erkenntnisse zur extremen Rechten aus den Jahren 1992 bis 2012 auf – bis 2134 soll dieses ­Dokument geheim bleiben.