Greta Thunberg und die Macht der Unschuld

Der Traum vom Kinderglück

Naiv, radikal und unerbittlich: Die 16-jährige Greta Thunberg ist zur globalen Ikone des Widerstands geworden. Ein Generationenwechsel liegt in der Luft.

Etwas Rätselhaftes, Unaufgeklärtes steckt schon in den Bildern dieses Mädchens mit den Zöpfen, mit dem etwas verhärteten und zugleich sanft ­ironischen Lächeln und dem entschlossenen Blick. Als wäre etwas aus Bullerbü herausgeschleudert worden, das den großen Verrat der Erwachsenenwelt am Bullerbü-Versprechen anklagt, als wäre der eingesperrte und korrumpierte Traum vom Kinderglück nun als politisch-moralisches Gespenst auferstanden. Und als hätte Unschuld sich paradoxerweise in Macht verwandelt. Jetzt will ein Zwanzigundnochwasjähriger in Süditalien, zum Beispiel, dass »wir alle Greta Thunberg werden«, und hängt sich blonde Zöpfe an den Kopf zur Demonstration mit dem entsprechenden Pappschild. Alle Medien berichten von Greta und bekommen doch keine kohärente Geschichte zusammen. Es ist das Bild einer Bewegung geworden, nicht obwohl, sondern gerade weil es nicht vollständig den ­Erwartungen an das Gesicht einer Jugendbewegung im Jahr 2019 entspricht. Sehen Jugendliche nicht aus wie Slacker und Rapper, wie Skater, Influencer und Follower, wie auf der Suche nach stylischen Selfies, in Smartphones versunken, oder, andrerseits, wie künf­tige Opernballbesucher, wie JU-Karrieristen und Friseur­objekte, oder wenigstens wie militante Tierschützer und Graswurzelnestler, Punks und Rastas, wie Feschisten, Outdoor-Modelle, Ponyhofschickeria, wie »Fack ju Göhte«, »World of Warcraft«, Silicon Valley, Kampfsport-Aficionados, Starbuck’s oder überhaupt wie irgendwas? Sind wir nicht verdammt noch mal gewöhnt, dass sich die Impulse blitzrasch in ihren Bildern erschöpfen?

Als wäre der korrumpierte Traum vom Kinderglück als politisch-moralisches Gespenst auferstanden, als hätte sich Unschuld in Macht verwandelt.

Das passt nicht ganz in diese Geschichte. Die von Greta Thunberg initiierten »Schulstreiks für das Klima« sind inzwischen zur globalen Bewegung »Fridays for Future« gewachsen. Mit den Schulstreiks wollte sie zunächst erreichen, dass Schweden das Übereinkommen von Paris einhält, so konkret war das schon immer. Dann weite sich die Sache aus. Nicht zuletzt durch das Bild Gretas, das verbreitet wird, das tapfere und zornige Mädchen mit den Zöpfen, das eine Welt patriarchaler, ökonomischer, politischer und medialer Macht herausfordert, das es bis zur (wohlwollenden) Darstellung auf einem Figurenwagen des Kölner Karnevalszugs bringt, das Bild, das ganz im Gegensatz zu den zahllosen mehr oder weniger fotogenen, narrativen und funktionablen Bildern der »engagierten« Promis den Blick der alten weißen Männer irritiert und das zugleich in die Mitte der populären Ikonographie dringt.
Gewiss ist das alles nicht zufällig entstanden. Natürlich ist Greta Thunberg den Umgang mit der Öffentlichkeit von Kindheit an gewöhnt: sie ist die ältere von zwei Töchtern der Opernsängerin Malena Ernman und des Schauspielers Svante Thunberg (eine Episode in der Serie »Skärgårdsdoktorn« macht ihn noch nicht zum Star). Zusammen haben die Ehepartner das Buch »Scener ur hjärtat« (Szenen aus dem Herzen) veröffentlicht, in dem sie über den Autismus und andere neuropsychiatrische Diagnosen der Töchter sprechen, und darüber wie die Klimakrise eine Familienkrise verursacht hat, und auch darüber, wie das Engagement eine Familie auch wieder zusammenbringt.

Eine Gegenerzählung zu der verbreiteten Legende, junge Menschen mit Autismus oder dem Asberger-Syndrom seien vor allem leichte Beute für die ­IT-Branche und könnten von der Herrschaft der alten weißen Männer in Dienst genommen werden wie einst der »Rain Man« von seinem geschäftstüchtigen Bruder. Die Probleme mit den sozialen Tauschsignalen, die Schwierigkeit mit den emotionalen Signalen, die gern als Metapher für die sozio­phobe Wirklichkeit des Neoliberalismus verwendet wurden, kehren sich ins moralische Gegenteil. Nach Greta Thunbergs Auftritten bei Konferenzen und Empfängen, bei denen sie das Anliegen der »Friday for Future«-Bewegung ohne diplomatische Verklausulierungen und ohne medienkonventionelle ­Inszenierungen vorbrachte, häuften sich die gehässigen, diskreditierenden Kommentare im Netz. Man sagt, sie stammen hauptsächlich von rechten Männern, was sowohl die Sprechweisen als auch die Motive nahelegen: weiblich, jung, »psycho«, natürlich ferngesteuert und medial missbraucht. Die Hysterie, mit der die Reaktionen vorgetragen werden, mag darauf schließen lassen, dass da eben das gewohnte Feind- und Hassbild gar nicht so leicht zu konstruieren ist und dass, vielleicht, eine Konkurrenz entsteht, wo Politik wieder mit Emotion und Dramatik besetzt werden kann. Hier könnte, wer weiß, dem negativen Charisma der Rechtspopulisten ein positives Gegenbild erwachsen.

So ganz allein ist dieses Bild freilich gar nicht. Die etwa gleichaltrige Sängerin Billie Eilish wird in der Zeitschrift Musikexpress als »Greta Thunberg der Popmusik« charakterisiert. Sie ist ein Popstar, der sich um traditionelle Rollen und Genres nicht kümmert, über die sozialen Medien bekannt wurde, mit mehreren Milliarden Streams und ­einer Fama, die auch in die traditionellen Medien strahlt. Entscheidend ­jedoch ist bei beiden (und etlichen berühmten Künstlerinnen und Aktivis­tinnen dieser Generation), dass sie die Diskurs- und Popgeschichte und ihre Fallen schlicht ignorieren und sich der medialen Produktionsmitteln bedienen, ohne taktische Rückkopplungen und semantischen Unterbau. Man stellt sich hin und sagt es, macht es, singt es. Weder stilisiert wie zu einer Casting-Show der Scripted Reality noch in beständiger Sorge um Authentizität und Selbstreflexion. Da liegt ein kommender Generationenbruch in der Luft, der nicht allein eine alte, verknöcherte, reiche Elite betrifft, sondern auch die Erben von Pop und Politik, die gelernt haben, vorsichtig, kompromissbereit, antitheatralisch, postheroisch, ironisch und schizophren mit ihren Erkenntnissen und Interessen umzugehen. Dem Entsetzen der Reaktion steht da ein postliberales Kopfschütteln ­gegenüber: Wie naiv!

Ist es das? Als Greta Thunberg vor der UN-Klimakonferenz in Kattowitz sprach, war sie 15 Jahre alt und machte die Fronten klar: »Ihr seid nicht erwachsen genug, es zu sagen, wie es ist. Sogar diese Bürde überlasst ihr uns Kindern.« Das ist zugleich widersinnig und wahrhaftig, denn mit einer solchen Erkenntnis allein ist das Ende jeder Art von Kindheit besiegelt.

Kinder und Kindheit sind damit aus dem mythisch-familiären Zusammenhang herausgenommen und als politisches Subjekt in eigenes Recht gestellt, Erwachsene und Erwachsenheit als vakantes Terrain gedeutet. Es ist diese Mischung aus einer kindlichen Naivität, die sich erst einmal nicht um Machbarkeit, Diplomatie und Allianzen kümmert, und einer Radikalität, welche ansonsten in den Mainstream keinen Weg mehr findet außer im Zuge gewaltsamer Auseinandersetzungen. Und diese Mischung verhilft der ökologischen Idee zu neuer Dringlichkeit und negiert den allfälligen zähen Energieverlust von Opposition und Kritik.

»Alle wollen Greta Tumberg sein.«

Bild:
Reuters / Yara Nardi

Interessanterweise ähnelt Billie Eilish Greta Thunberg auch darin, eine Maske des kühlen Trotzes zu tragen, hinter der Schmerz und Emotion verborgen sind. Sie bezeichnet sich als »stoisch« und sagt: »Ich zeige fast nie Gefühle.« ­Greta Thunberg tritt mit einer ähnlichen Mimik auf, sie verzieht, wie man so sagt, keine Miene, wenn sie ihre Vorwürfe vorträgt, sie ist mehr Blick als Bild. Das Charisma dieser jungen Menschen unterscheidet sich von dem der vorherigen Generation, die gerade durch Gefühlsausbrüche wirkte und durch Lautstärke. Billie Eilish betont stets die Elemente der Stille in ihrer Musik, und Greta Thunberg schreit nicht bei ihren Aussagen, die sozusagen keinen Weg zu einer billigen Versöhnung offenlassen. Es ist der Auftritt von Menschen, die behaupten, dass eine Grenze überschritten ist. Daher kann es nicht mehr darum gehen, zu gefallen, weder in der äußeren Erscheinung noch in dem, was man sagt (oder ­musiziert, die Grenzen sind ohnehin fließend). Sie treten gegen das an, was Mark Fisher den Kapitalistischen Realismus genannt hat; ein Spiel mit der ­Unveränderbarkeit und der Unabwendbarkeit, mit der Überlebenskorruption oder apokalyptischer Frivolität. Die Vorgaben der Aufmerksamkeitsökonomie und des Marketing laufen hier ins Leere.

Weder Billie Eilish noch Greta Thunberg sind »Rollenmodelle«. Ihre Fans sehen nicht so aus wie sie (auch wenn, wie erwähnt, Zeichen adaptiert werden, sei es bei der Demonstration oder beim Karnevalszug). Der charismatische Hunger wird auf besondere Menschen übertragen, die klar machen, dass sie nicht posen. Die Angst vor der »Veralltäglichung des Charisma« (von der Max Weber sprach) ist hier sozusagen schon von vornherein abgeblockt: Alltägliches kann charismatisch werden in einer Welt, die aus Tauschprozessen des sozialen Posing besteht.

Das Charisma bringt freilich immer auch einem Ausschluss mit sich. Die Begeisterung für Greta Thunberg bleibt vielen ein Rätsel, eben weil sie nicht nur aus einer Geschichte des Protestes, sondern auch aus einer Popgeschichte heraustritt. Die Erwachsenen dieser Zeit glauben zu wissen, wie ein »Star« entsteht, wie man »prominent« wird, sie verwechseln ihr eigenes Vergnügen an Trash-Ereignissen im analogen Fernsehen mit einem Wissen um das »dekadente« Endstadium des Entertainment und der Jugendkulturen. Selbst Heroen des »Normalen« wie Kurt Cobain, Beck oder NoName sind noch Echos des klassischen rebel hero. An Greta Thunberg und Billie Eilish aber ist nichts von einer Opferpose. Sie sind eher Propheten als Märtyrer; dass ihre Aussagen allgemeiner, moralischer und ästhetischer Art sind, ändert nichts an ihrer Unerbittlichkeit.

Zur politischen Konkretion treiben es die Gegner, die man durch solche ­Direktheit zur Selbstaussage zwingt, schon selbst: Ich bin fassungslos, dass Schulschwänzen heiliggesprochen wird«, sagte Christian Lindner von der FDP. Besser hätte er nicht ausdrücken können, gegen wen oder was sich die Rebellion der charismatischen Unschuld richtet: Gegen eine Verbindung von wirtschaftlicher, materieller Gier mit einem protestantischen Arbeits- und Disziplinierungsethos, also genau das, was nach Greta Thunbergs Worten die Welt erst in die Krise geführt hat. Christian Lindners Gesicht zu diesem Ausspruch kann nur ausgesprochen bösartig wirken, als wäre er der schlecht rasierte, post-hipsterige Neoliberalismus-Wolf, der das schwedische Rotkäppchen nur fressen wollen kann. Etwas, das Lindner fassungslos macht, kann nicht ganz schlecht sein.

Das rechte Webportal »Tichys Einblick« etwa, bei dem sich auch Leugner des Klimawandels gern zu Wort melden dürfen, meint, Greta werde von den Medien als »Propagandainstrument« benutzt. Und auch die Junge Freiheit sieht mit einem mal ziemlich alt aus, wenn sie Lindner assistiert: »Lindner warnte davor, die Ökologie zu instrumentalisieren, um Wirtschaft und ­Gesellschaft umzubauen. Als Beispiele nannte er Forderungen, das Auto zu verdrängen, Menschen zu Vegetariern zu machen und Flugreisen zu unterbinden.«

Eher onkelhaft kommt dagegen der, nun ja, »Grüne« Winfried Kretschmann daher. Einmal die Schule schwänzen, das sei »ziviler Ungehorsam«, sagt er – er hat ja noch eine Parteigeschichte im Rücken – zu einer »Dauerveranstaltung« dürfe das aber nicht werden. Das bereitet den Boden für die praktische Reaktion. Der Direktor des Wilhelm-Hausenstein-Gymnasiums in München-Bogenhausen drohte in ­einem Rundbrief mit Verweisen und Bußgeldern für Schüler, die wegen der Proteste schwänzen. München-Bogenhausen, das Viertel der Besser­verdienenden, Gewinner, Spekulanten und Gentrifizierungskulturfuzzis. ­»Jeder weiß jetzt, was Sache ist«, soll der Direktor gesagt haben. Wilhelm Hausenstein kann sich nicht mehr gegen solche Sprache wehren.

Überhaupt die Sprache. Das nordrhein-westfälische Schulministerium hat wegen der »Fridays for Future«-Proteste einen Brief an alle Schulen verschickt, es handelte sich genauer gesagt, um eine Dienstanweisung zu dauerndem Fernbleiben vom Unterricht. Da geht es um »zwangsweise Zuführung« und »Ordnungswidrigkeitsverfahren«, wenn Schüler dauerhaft dem Unterricht fernbleiben. Umgekehrt stellen sich andere Politiker offen auf die Seite der Streikenden, dazu ­gehört Angela Merkel (CDU) ebenso wie eine Vereinigung der »Parents for ­Future«. Abgrenzung oder Umarmung, erst indem sich beide in die Haare kommen, wird die Macht der Unschuld sichtbar. Wer angesichts ihrer von »zwangsweiser Zuführung« spricht, hat auch den semantischen Spielraum ­verloren. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) bekannte übrigens freimütig, dass er schon immer gegen Demons­trationen von Jugendlichen gewesen sei, egal ob es um den Frieden oder die Atomkraft ging. Die Maske ist unten. In London wurde die verbale Gewalt nun wieder zur manifesten.

Die Macht der Unschuld und der geradezu zwanghafte Selbstausdruck der Schuldigen bilden eine dialektische Einheit. Greta Thunberg hat das offenbar erkannt und nutzt jede Gelegenheit, aus dem Versuch der Umklammerung eine neue Chance zu entwickeln, wie etwa in Davos, wo die professionellen popkulturellen Gutmenschen und die Wirtschaftsvertreter traut zusammenkamen. Zum Abschluss der Veranstaltung kommt der Moderator auf sie zu, das üblich hohle Appellwort erwartend. Greta greift sich das Mikrophon und setzt das Greta-Thunberg-Gesicht auf: »Manche Leuten sagen, dass die Klimakrise etwas ist, das wir alle erschaffen haben. Doch wenn jeder schuldig ist, ist niemand verantwortlich. Aber es gibt Verantwortliche: Unternehmen und Entscheidungsträger, die genau wussten, welche unbezahlbaren Dinge sie opfern, um unvorstell­baren Reichtum anzuhäufen. Ich glaube, viele von Ihnen, die heute hier sind, gehören zu dieser Gruppe.« In Augenblicken wie diesen schlägt die Macht der Unschuld um in die politische Revolte. Das Versprechen dieser ökologischen Jeanne d’Arc besteht gerade darin, dass man sie weder einschüchtern noch kaufen kann, weder propagandistisch missbrauchen noch psychologisch besänftigen. Die Konstruktion des neuen politischen Subjekts ist so ­widersprüchlich wie notwendig.

Ihre Eltern taten etwas Ungewöhnliches: Sie nahmen Greta ernst.

Zweifellos trägt die Geschichte von Greta Thunberg auch Züge einer Heiligenlegende. Sie war knapp zehn Jahre alt, als sie im Unterricht das erste Mal vom Klimawandel erfuhr. Sie konnte, so will es diese Legende weiter, nicht verstehen, warum die Menschen etwas tun, das für sie selbst so gefährlich und schädlich war. Sie las Buch um Buch, verfiel in grüblerische Melancholie und schließlich in eine tiefe Depression. Greta hörte auf zu sprechen, ging nicht mehr aus dem Haus, verweigerte jedes Spiel und aß immer weniger. Ihre Eltern taten etwas Ungewöhnliches: Statt Gretas Probleme als psychische und durch das Asperger-Syndrom verstärkte zu behandeln (oder gar behandeln zu lassen), nahmen sie sie ernst. Sie begannen, das eigene Leben nach ökologischen Gesichtspunkten zu verändern, und sie unterstützten sie dabei, mit ihrem Zorn an die Öffentlichkeit zu gehen. So malte Greta Thunberg im August 2018 jenes Schild, auf dem »Schulstreik für das Klima« stand und mit dem die Bewegung des »Freitags für die Zukunft« begann. Mit dem Schild postierte sie sich vor dem schwedischen Parlament, wo seitdem jeden Freitag demonstriert wird, in der Form des Schulstreiks. Der Versuch der wohlmeinenden Erwachsenen, die Sache wieder in legale und »vernünftige« Bahnen zu bringen, scheiterte. Die Bewegung war entstanden, und sie verlangte von ihrer Gründerin so viel wie diese umgekehrt von ihr.
Die Bewegung betrifft, so rasch ist man da wieder mit Erklärungen bei der Hand, nach Ansicht der Kommentatoren eine »Generation Z«, eine, die sich im Gegensatz zu ihren Vorläufern, wieder mehr Sorgen um die Welt als Ganzes als um das eigene Davon- und Vorankommen macht. Zum Teil ist das ein Privileg, »Friday for Future« ist gewiss eher eine Sache von Mittelschichtkids aus mehr oder weniger gesicherten Verhältnissen und mit nicht den schlechtesten Lebenschancen, zum Teil aber auch ein Protest gegen diese Privilegien selbst.

Es ist, was diese dynamische und stabilisierende Klasse im Kern immer zu fürchten (und manchmal zu ersehnen) hat: Der Aufstand der eigenen Kinder. Es ist nicht nur ein Aufstand der Unschuldigen gegen die Schuldigen, sondern vielmehr auch ein Aufstand da­gegen, mitschuldig zu werden. Das Politische und das Persönliche sind in solchen Aufständen immer sehr eng miteinander verbunden, auf der einen wie auf der anderen Seite des Konflikts. Kind und Kindlichkeit sind dabei ­natürlich auch Codes und Chiffren. Die 16jährige Greta Thunberg, die durch ihre Körpergröße, ihre Frisur und ihr Auftreten jünger wirkt, als sie ist, übernimmt diesen Code viel zu fundamental, als dass dies einfach taktische Erscheinung wäre. Sie personifiziert das Paradoxon des Kindes mit politischem Bewusstsein, und, zweites Paradoxon, sie setzt die Macht der Unschuld (von der sich Religion, Soziologie und Kunst immer wieder fasziniert zeigen) selbstbewusst ein. Um in diesen Widersprüchen zu agieren, muss man vielleicht ein solches inneres und äußeres Dispositiv aufweisen wie sie.

Greta Thunberg begegnet heute Christine Lagarde und morgen dem Papst. Diese Begegnungen haben auch etwas unglaublich Komisches an sich, die Proportionen wie die Worte stimmen nicht, es begegnen sich verschiedene Codes, die voneinander profitieren wollen, ohne einander zu verstehen. Es bleibt die Konsequenz des eigenen Dings. Greta zwingt zuerst die eigene Familie, dann einen Teil der Welt dazu, nur zum Beispiel sich vegan zu ernähren und auf Reisen mit dem Flugzeug zu verzichten. Es ist vielleicht ein Wesen dieser Bewegung, entstanden aus ­einer sehr persönlichen Heils- und Befreiungsgeschichte, dass immer wieder Grenzen der Zumutung überschritten werden. Für die Anhänger der »Fridays for Future«-Bewegung kann es durchaus gefährlich werden, nicht bloß für jene, die durch den Schulstreik möglicherweise einen Karriereschritt verpassen oder Zoff in der Familie bekommen, wenn sie Objekte für »Ordnungswidrigkeitsverfahren« werden, sondern durchaus drastisch, etwa für die Demonstranten in Hongkong oder in London. Das Imperium schlägt immer zurück. Auch gegen die Macht der Unschuld. Unbesiegbar ist es nicht.