Atommeiler in der Slowakei

Europäische Energiepolitik mit sowjetischen Altlasten

Whistleblower berichteten über unhaltbare Zustände auf der Baustelle wie fehlende Koordination zwischen den Subunternehmen und unterbleibende Qualitätssicherung.

Eine seltsame Blüte hat die slowakische Nuklearpolitik getrieben. Zusammen mit dem italienischen Energiekonzern Enel baut die Slowakei in Mochovce zwei Atommeiler aus, die im vergangenen Jahrtausend von der Sowjetunion erworben worden waren. Es ist, als ob die slowakische Regierung beschlossen hätte, die gute alte Wolga-Limousine als Dienstwagen einzusetzen. Nur wäre das eine vergleichsweise unproblema­tische Entscheidung. Doch die slowakische Regierung will, dass die Druckwasserreaktoren vom Typ WWER440/213, deren Technik aus den siebziger Jahren stammt, 13 Prozent der Stromversorgung in der Slowakei übernehmen – mit Zustimmung der zuständigen Stellen der EU. Es rächt sich nun, dass die EU die Nuklearanlagen ihrer osteuropäischen Mitgliedstaaten in der Annahme akzeptiert hat, es handle sich ohnehin nur um Auslaufmodelle. In den neuen deutschen Bundesländern wurden alte Reaktoren dagegen stillgelegt, etwa der Reaktor in Greifswald, ebenfalls vom Typ WWER440/213.

Whistleblower berichteten über unhaltbare Zustände auf der Baustelle wie fehlende Koordination zwischen den Subunternehmen und unterbleibende Qualitätssicherung.

Bislang drangen die slowakischen Pläne kaum an die Öffentlichkeit. Anfang April machte die österreichische Umweltschutzorganisation Global 2000 – von Mochovce sind es rund 110 Kilometer Luftlinie bis zur österreichischen Grenze – mit einer Petition darauf aufmerksam, dass im Atomkraftwerk Mochovce zwei neue Blöcke weitgehend fertiggestellt sind und in absehbarer Zeit in Betrieb gehen sollen. Global 2000 weist auf die rekordverdächtige Bauzeit der Meiler hin. Vor 34 Jahren wurde das Projekt initiiert. Das Design des WWER440/213 stammt noch aus der Zeit vor dem Super-GAU von Tschernobyl und ist daher völlig veraltet. Die Meiler besitzen kein Sicherheitscontainment, das dem heutigen Standard entspricht. Sie sind weder gegen katastroophische Einwirkungen von außen geschützt, noch können sie beim Eintritt eines größten anzunehmenden Unfalls (GAU) das radioaktive Inventar wirksam zurückhalten. Stattdessen verfügen sie über eine als »Bubble Condenser« bezeichnete Konstruktion, die beim Ausfall des Kühlsystems helfen soll, den entstehenden Überdruck im Reaktorbehälter zu senken, den entweichenden Wasserdampf zu kondensieren und als Kühlmittel zurückzuführen.

Vergleichbare Komponenten gab es auch in den Siedewasserreaktoren von Fukushima, die zum Zeitpunkt der Nuklearkatastrophe im März 2011 ebenfalls schon über 30 Jahre alt waren. Bei zwei der drei Kernschmelzen funktionierten sie in der Weise, dass Explosionen und der Austritt von Radioaktivität um ein bis zwei Tage verzögert wurden. Unter Umständen kann das ein wichtiger Zeitgewinn sein, eine ausreichende Vorsorge ist es nicht. Die Atomaufsichtsbehörden versichern, dass neue Atomkraftwerke (AKW) nur zugelassen werden dürften, wenn ihre Sicherheitsvorkehrungen dem neuesten Stand der Technik entsprechen.

Als die Tschechoslowakische Sozialistische Republik (ČSSR) 1990 zerfiel und das Land zwei Jahre später in die Tschechische und die Slowakische Republik geteilt wurde, besaß die Slowakei ein AKW in Bohunice mit vier laufenden WWER-Reaktoren und ein AKW in Mochovce mit vier WWER-Reaktoren im Bau. Bei den Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union verlangte die EU-Kommission sicherheitstech­nische Nachrüstungen für die Kraftwerke. Dementsprechend ließ die Slowakei beispielsweise die Kontroll- und Überwachungssysteme erneuern, und Siemens erhielt wie in vielen osteuropäischen Ländern lukrative Aufträge.

Die Blöcke eins und zwei von Mocho­vce gingen 1998 und 2000 ans Netz, während die Arbeiten an den Blöcken drei und vier aus Geldmangel zunächst eingestellt werden mussten. Allerdings wurden die halbfertigen Anlagen nicht aufgegeben, sondern eingemottet. Mit der EU-Kommission war vereinbart, dass die beiden älteren Meiler von Bohunice, Vorläufermodelle des WWER-213, in den Jahren 2006 und 2008 stillgelegt werden sollten. Statt für eine Alternative zu planen, wofür ausreichend Zeit vorhanden ge­wesen wäre, suchte der damalige Ministerpräsident Robert Fico (2006 bis 2010 und 2012 bis 2018), der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei Smer und ein unbeirrbarer Befürworter der Atomkraft, nach Investoren für die konservierten Altreaktoren. Er fand sie in Italien, wo nukleartechnische Kompetenz kaum vorhanden ist, weil sich das Land zweimal in Referenden gegen Atomenergie entschieden hat.

Das italienische Energieunternehmen Enel glaubte jedoch an die damals vorhergesagte »Renaissance der Atomkraft« und wollte an mehreren internationalen Projekten teilnehmen, aus denen es sich mittlerweile wieder zurückgezogen hat. 2005 erklärte sich Enel bereit, Ficos Bedingungen zu erfüllen, und übernahm 2006 66 Prozent des privatisierten Stromkonzerns Slovenské elektrárne (SE) für 840 Millionen Euro sowie dessen Schulden in Höhe von 1,1 Milliarden Euro. Die restlichen 34 Prozent von SE hält der Nationale Vermögensfonds der Slowakischen Republik, vertreten durch das Wirtschaftsministerium.

Paolo Ruzzini wurde zum Vorsitzenden von SE bestimmt und Enel entwarf eine ehrgeizige Strategie für den Elektrizitätsmarkt »Centrel«, der die gesamte Region zwischen Westeuropa und dem Balkan umfassen sollte: Italien, Österreich, Tschechien, Slowakei, Polen, Ungarn. Zwei Milliarden Euro wollte das Unternehmen in die Fertigstellung von Mochovce drei und vier sowie in die Modernisierung der vier anderen slowakischen Reaktoren investieren. Ein italienisch-slowakisches Baukonsortium wurde gebildet, zeitweise wurde auch die russische Firma Atomstrojexport hinzugezogen.
Das Kalkül entsprach in etwa den Vorgaben der EU-Kommission, die für das Projekt damals 2,78 Milliarden Euro veranschlagte und Subventionen in Aussicht stellte. Doch die beiden Mochovce-Blöcke sind nicht nur ein sicherheitstechnisches Abenteuer, ­sondern entpuppten sich auch als wirtschaftliches Desaster. Die Inbetriebnahme wurde elf Mal verschoben, die Kosten stiegen auf derzeit 5,4 Milliarden Euro. Bezogen auf die Leistung der Kraftwerke sind die Errichtungskosten pro Megawatt bei den Altmodellen ­genauso hoch wie beim Prototypen des Europäischen Druckwasserreaktors (EPR). Das müsste jeden EU-Kommissar aufschrecken lassen. Der damalige EU-Kommissar für Energie, Günther Oettinger, verfolgte allerdings weiterhin den Ausbau der Atomenergie.

2015 schloss Enel mit der tschechischen Braunkohle-Holding EPH ein Abkommen über den Verkauf von 66 Prozent seiner SE-Anteile für 750 Millionen Euro. Zunächst soll EPH 33 Prozent übernehmen, die anderen 33 Prozent erst nach Fertigstellung des dritten und vierten Reaktorblocks in Mochovce – falls es jemals dazu kommt.

Nach dem Unglück von Fukushima stellte man fest, dass in Mochovce Nachrüstungen zur Verbesserung der Erdbebensicherheit notwendig waren. Bereits fertige Komponenten wurden nachträglich durch die Anbringung von Stahlplatten »gehärtet«. Im Zuge dieser Nachbesserungen wurde der Kondensationsturm mit 10 000 Bohrlöchern durchsiebt. Kritische Experten sind über diese handwerklichen Improvisationen entsetzt. Sie glauben, dass die Stabilität der gesamten Anlage dadurch beeinträchtigt werde.

Mehrere Whistleblower berichteten Global 2000 über unhaltbare Zustände auf der Baustelle: Fluktuation der Beschäftigten, fehlende Koordination zwischen den Subunternehmen, mangelhafte Dokumentation, keine Qualitätssicherung. Der inzwischen entlassene Nuklearingenieur Mario Zadra behauptete öffentlich, dass Arbeiten abgerechnet worden seien, die nur auf dem Papier stattgefunden hätten. Diese Vermutung hegt inzwischen auch die slowakische Atomaufsicht. Mitte April wurden Ruzzini und sein Nachfolger Nicola Cotugno bei der Einreise am Flughafen Bratislava von der slowakischen Bundespolizei festgenommen. Sie werden beschuldigt, öffentliche Gelder veruntreut zu haben. Die Rede ist von 22 Millionen Euro. Vermutlich handelt es sich dabei um einen kleinen Teil der EU-Subventionen.

Einer der Whistleblower sagte der Wiener Kronen Zeitung: »Ich weiß, dass es bei uns in der Slowakei gefährlich ist, über Korruption, Mafia oder politische Machenschaften zu sprechen. Doch gerade die Ermordung des Journalisten Ján Kuciak im Vorjahr hat mich dazu bewegt, aus der Deckung zu gehen.« Seit jenem Attentat, dem auch Kuciaks Verlobte Martina Kušnírová zum Opfer fiel, hat sich in der Slowakei einiges ver­ändert. Es gab anhaltende Proteste, auf denen der Regierung einer Mitverantwortung zugeschrieben wurde. Ministerpräsident Fico musste zurücktreten, ebenso der Innenminister und der ­Polizeichef. Die sozialliberale Umweltaktivistin Zuzana Čaputová gewann die Präsidentschaftswahl.

In Mochovce ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Anfang Mai hieß es, die für Juni vorgesehene Inbetriebnahme des dritten Reaktorblocks verzögere sich bis November 2019, möglicherweise sogar bis März 2020.