Sexualreformerin Martha Ruben-Wolf

»Die Augen muss man sich aus dem Kopf schämen«

Seite 2 – »Die Mutterschaft ist eine Angelegenheit des freien Willens geworden.«

Die Wolfs arbeiteten als sogenannte Armenärzte in der stetig wachsenden Großstadt Berlin. Durch die sprunghafte Industrialisierung wuchs die Bevölkerung insbesondere in den Arbeiterbezirken im Osten der Stadt stark. Proletarische Familien lebten auf beengtem Wohnraum unter extrem schlechten hygienischen Bedingungen; Kinder wuchsen in Hinterhöfen auf und wurden oft Opfer von Armenkrankheiten wie Tuberkulose.

Die beiden Ärzte: Martha mit Ehemann Lothar Wolf.

Bild:
privat

Martha Ruben-Wolf war davon überzeugt, dass allein die revolutionäre Überwindung der Verhältnisse und die Legalisierung der Abtreibung die Misere der Frauen beenden könne. Sie war Mitglied des Roten Frauen- und Mädchenbundes, kandidierte als Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands bei den Preußischen Landtagswahlen 1928 und den Reichstagswahlen in den Jahren 1930 bis 1933 und publizierte mehrere Broschüren wie »Abtreibung oder Verhütung?« aus dem Jahr 1929. Früh begann sie sich in der Sexualreformbewegung zu engagieren und unterhielt enge Kontakt zu Helene Stöcker, der Gründerin des Deutschen Bunds für Mutterschutz und Sexualreform.

Als überzeugte Kommunisten waren Martha Ruben-Wolf und Lothar Wolf der Meinung, dass die Frage der Abtreibung in der Sowjetunion vorbildlich gelöst sei. Vier Mal – 1925, 1926, 1927 und dann noch einmal im Jahr 1930 – unternahmen sie anstrengende und kostspielige Reisen durch die Sowjetunion und verfassten anschließend enthusiastische Reiseberichte. »Vom ersten Rätebahnhof«, heißt es in »Moskauer Skizzen zweier Ärzte«, erschienen 1926, »weht die rote Fahne im blauen Sommerhimmel. Die ersten Rotarmisten helfen ermüdeten Bäuerinnen, reichen ihnen behutsam Kinder und Gepäckstücke in die Wagen. An ihren Mützen glänzt der Sowjetstern. Tassen und Teller im Eisenbahnzug tragen Hammer und Sichel. Man hat es ja nicht anders erwartet.«

Die positive Voreingenommenheit der Wolfs führte dazu, dass sie nur gutgekleidete Menschen auf sauberen Straßen gesehen haben wollten, disziplinierte Verkehrsteilnehmer, idyllische Verhältnisse und ausgezeichnete Sanatorien sowie Krankenhäuser. Martha Ruben-Wolf glaubte, dass das Problem der Abtreibung, insbesondere das des oft tödlichen Abortfiebers, häufiges Resultat eines unsauber durchgeführten Eingriffs, in der Sowjetunion gelöst sei, und sie fand ihre These bestätigt, dass Frauen, die nicht zur Mutterschaft gezwungen werden, sich freiwillig für das Kind entscheiden. »Das kommt alles aus einer Wurzel«, schreibt sie, »die Kinder, die dort in den letzten Jahren in die Welt gesetzt sind, sind gewollte Kinder. Die Mutterschaft ist eine Angelegenheit des freien Willens geworden. Die Unterbrechung der Schwangerschaft ist bis zum Ende des dritten Monats gestattet. In der Sow­jetunion kann keine Frau mehr wegen Abtreibung ihrer Leibesfrucht verfolgt werden.«