Sexualreformerin Martha Ruben-Wolf

»Die Augen muss man sich aus dem Kopf schämen«

Seite 4 – Diskrepanz zwischen Propaganda und Wirklichkeit

Ihre Tätigkeit als Ärztin in der neuen Gesellschaft der Sowjetunion hatte sich Martha Ruben-Wolf freilich anders vorgestellt. Im Gegensatz zu ihrem Mann fiel ihr schon bald die Diskrepanz zwischen Propaganda und Wirklichkeit auf; die beiden Ehe­leu­te begannen zu streiten. »Und seit dem Moment, an dem ein Gesetz in Kraft trat, das die medizinischen Aborte in der Sowjetunion strengstens untersagte«, berichtet ihre Tochter Sonja Friedmann-Wolf in ihrem Buch »Im roten Eis«, »stand es von Tag zu Tag schlechter um unseren häuslichen Frieden. ›Haben die Arbeiterfrauen in Deutschland etwa in solch menschenunwürdigen Verhältnissen gelebt wie hier?‹ hörte ich Mutter damals schreien. ›Und standen wir Ärzte den armen Kreaturen vielleicht in derselben hilflosen Weise gegenüber wie jetzt? Nicht mal einen Rat wagt man ihnen zu geben, auch das ist ungern gesehen. Bitte schön, da steht es schwarz auf weiß: Zehn Jahre Arbeitslager kann eine unerlaubte ärztliche Einmischung kosten. Die Augen muss man sich ja aus dem Kopf schämen«

Am 26. Mai 1936 hatte das ZK der KPdSU der erstaunten Öffentlichkeit mitgeteilt, dass der Schwangerschaftsabbruch von nun an verboten sei. Friedrich Wolf stellte Ende des Jahres 1936 einen ersten Ausreiseantrag und tat von nun an alles, um das Land wieder verlassen zu können. Kommunisten weltweit und Sympathisanten der Sowjetunion rieben sich verwundert die Augen, denn das Abtreibungsverbot war nur der Anfang. Die Stalin’sche Familienpolitik lief darauf hinaus, die alten, eigentlich überholt geglaubten Rollen zu reinstallieren. »Seitdem wir hier sind«, schrieb der jugoslawische Schriftsteller Erwin Sinkó, der zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in Moskau lebte, »wird die Restauration der Familie, der Ehe propagiert. (…) Ich finde, die Art, wie jetzt hier die ›Mutterheldinnen‹ – eigentlich Mütter beziehungsweise Frauen als Zuchttiere – gepflegt werden, ich finde diese ganze mora­lische Atmosphäre des Familienkults, ich kann nicht dafür, abstoßend.«

Mit Ehemann, ihrem Sohn Walter (links) und ihrer Tochter Sonja (rechts).

Bild:
privat

Vielleicht hätte sich Martha Ruben-Wolf noch damit abfinden können, dass die realpolitischen Interessen der Sowjetunion ihren Vorstellungen zuwiderliefen, aber nicht nur in Hinblick auf die Familien- und Geschlechterpolitik hatte sich das Leben in der Sowjetunion dramatisch geändert. Im Dezember 1934 war der Funktionär Sergej Kirow in Leningrad durch einen Kopfschuss getötet worden. Seine Ermordung bot der KPdSU-Führung unter Stalin Anlass zu einer regelrechten Flut von Prozessen gegen hohe Partei- und Staatsvertreter, die von einer Verhaftungswelle begleitet wurde, die das ganze Land erfasste. Die Jeschowschtschina – willkürliche Verhaftungen, Schnellverfahren, Erschießungen, Zwangsarbeit und Massenterror – unter dem Leiter des NKWD, Nikolaj Jeschow, der selbst Anfang 1939 erschossen werden sollte, hatte ihren Höhepunkt im Jahr 1937.

In der Regel kamen die NKWD-Männer in der Nacht. die Verhafteten erfuhren niemals, was man ihnen eigentlich vorwarf. Kritiker des Systems ebenso wie fanatische Stalin-Anhänger; ein Muster war nicht erkennbar. Es stellte sich allerdings heraus, dass es nicht gut war, Ausländer zu sein oder Kontakt zu ihnen zu haben. Und es schien gefährlich zu sein, Menschen gekannt zu haben, die abgeholt worden waren.