Sexualreformerin Martha Ruben-Wolf

»Die Augen muss man sich aus dem Kopf schämen«

Seite 5 – Überdosis Schlaftabletten

Die Verhaftungswelle, die mit dem Jahr 1936 eingesetzt hatte, traf Nachbarn im Wohnblock von Lothar Wolf und Martha Ruben-Wolf, über die Sonja Friedmann-Wolf berichtet: »In unserem Hause fehlten bereits der Rumäne Moisesco; die Amerikanerin Kelly; der deutsche Jungkommunist Josef Lichtenstein, ein fünfjähriges Töchterchen zurücklassend; das Ehepaar Heymann aus Ungarn; noch ein deutscher Politemigrant namens Genosse Stamm und der uns gegenüber wohnende hagere alte Engländer, Genosse John Miller.«

Eines der späteren Bilder aus dem sowjetischen Exil: die Familie, kurz vor der Verhaftung von Lothar Wolf.

Bild:
privat

Jene, die den Verhaftungen und Verschleppungen (noch) nicht zum Opfer gefallen waren, versuchten, das Unfassbare zu rationalisieren. Missverständnisse würden im NKWD-Gewahrsam schon geklärt, meinte man, und wer unschuldig sei, habe schließlich nichts zu befürchten: »Das NKWD weiß, was es tut.« Sätze wie diesen habe auch sie selbst nachgeplappert, schreibt die Tochter Sonja Friedmann-Wolf in ihren Erinnerungen.

Ihr Vater, erzählt sie weiter, sei auch unter dem Eindruck der Verhaftungen optimistisch geblieben und habe versucht, jede Maßnahme der sowjetischen Regierung vor sich und den anderen zu legitimieren. Ihre Mutter sei hingegen mit jedem Tag, den sie in der Sowjetunion verbrachte, skeptischer geworden. Völlig unerwartet wurde Lothar Wolf verhaftet. Nach Angaben des »Biographischen Handbuchs Deutsche Kommunisten« geschah dies entweder am 28. November 1937 oder am 15. Januar 1938. Unstrittig ist, dass er am 4. Oktober 1938 zum Tode verurteilt und noch am gleichen Tag in Butowo erschossen wurde. Wie üblich wurden seine Frau und seine Kinder im Ungewissen gelassen und konnten nichts über sein Schicksal in Erfahrung bringen. Wie üblich verlor Martha Ruben-Wolf ihren Arbeitsplatz und wurde von allen Bekannten und Freunden plötzlich gemieden.

Martha Ruben-Wolf konnte nicht mehr schlafen, nachts quälte sie sich in Sorge um ihren Mann, tagsüber irrte sie durch Moskau. Dabei traf sie eines Tages auf Hedda Zinner, die später als Schriftstellerin in der DDR arbeiten sollte. Zinner erinnerte sich an dieses Treffen in einem Café: »Ich ging auf sie zu, da stand sie auf und kam mir einige Schritte entgegen. Ihre Augen, weit geöffnet, starr, blickten wie durch mich hindurch. Ihr Gesicht war käsig-weiß, die Haare unordentlich, Haarsträhnen hingen herunter. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, aber ehe ich ein Wort herausbrachte, sagte sie heiser: ›Deiner noch nicht! Er kommt auch noch dran!‹«

Obwohl sie eine Stelle als Krankenschwester, dann als Ärztin fand, gab Martha Ruben-Wolf im Verlauf des Jahres 1939 auf. Im August 1939 nahm sie sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben.

Ihre Kinder Sonja und Walter wurden 1941 nach Kasachstan deportiert. Walter starb im Jahr 1943 als Soldat der Roten Armee an der Front. Sonja Friedmann-Wolf wurde 1948 aus dem Lager entlassen, lebte zehn Jahre in Litauen und ging dann mit ihrem Mann und ihrer Tochter nach Israel. Ihre eigene Verstrickung in die Machenschaften der sowjetischen Geheimpolizei, die ihre desolate Lage nach dem Tod ihres Vaters und dem Suizid ihrer Mutter ausgenutzt hatte, quälte sie. In Tel Aviv beging sie 1986 Selbstmord. Ihre Erinnerungen wurden 2013 unter dem Titel »Im roten Eis. Schicksalswege meiner Familie 1933 – 1958« von Reinhard Müller und Ingo Way publiziert. Im selben Jahr sprachen Ivette Löcker und Christian Frosch für ihren Dokumentarfilm »Vom (Über)Leben der Sonja Wolf« mit deren Tochter –Martha Ruben-Wolfs Enkelin Ester Noter in Tel Aviv. Bereits seit 1997 gibt es eine Martha-Ruben-Wolf-Straße in Berlin, die an diese Pionierin der modernen Medizin erinnert, die – neben vielen anderen – ein Opfer des Exils in der Sowjet­union wurde.