»Die Augen muss man sich aus dem Kopf schämen«
Sie war gegen Abtreibung, aber sie war zugleich gegen die Kriminalisierung von Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch hatten vornehmen lassen oder – gravierender noch – ihn selbst herbeigeführt hatten. »Wenn wir die schärfsten Feinde des staatlichen Gebärzwangs sind«, schrieb die Berliner Ärztin Martha Ruben-Wolf in ihrer Broschüre »Richtlinien zur Frage der Geburtenregelung«, die 1930 erschien, »so bedeutet das keineswegs, dass wir Anhänger und Propagandisten der Abtreibung sind. Im Gegenteil. Die medizinische Wissenschaft lehrt, dass jede Abtreibung eine mehr oder minder gefährliche Operation ist, die zwar bei sachgemäßer Durchführung mit einem Mindestmaß an Gefährdung der Gesundheit und des Lebens der Mutter verbunden ist, aber doch, wenn irgendmöglich, vermieden werden muss. Die Abtreibung lässt sich in den meisten Fällen vermeiden, wenn man nach ärztlichem Rat eine entsprechende Technik der Empfängnisverhütung anwendet. Würde eine Aufklärung über diese Fragen für die breitesten Kreise der werktätigen Frauen durchgeführt, dann könnten jährlich Hunderttausende Fälle von schweren Erkrankungen und Tausende Todesfälle vermieden werden.«
Ihrer Überzeugung entsprechend setzte Martha Ruben-Wolf sich in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts über die geltende Gesetzeslage hinweg, obwohl die betroffene Frau und die behandelnde Ärztin mit bis zu fünf Jahren Zuchthaus bestraft werden konnten. Auch die Präsentation von Verhütungsmitteln und die Werbung für sie – in jener Zeit waren das nur Kondome – waren verboten.
Behördlichen Schätzungen zufolge starben im Jahr 1924 rund 12 000 Frauen an den Folgen von nicht regelgerecht vorgenommenen Abtreibungen. Derselben Schätzung zufolge sollte jede deutsche Frau durchschnittlich zwei Mal in ihrem Leben abgetrieben haben. Das Thema wurde von dem Stuttgarter Arzt und Dramatiker Friedrich Wolf in seinem Theaterstück »Cyankali« aufgegriffen. Das Stück wurde am 6. September 1929 am Berliner Lessingtheater uraufgeführt und leitete eine Debatte über den Abtreibungsparagraphen 218 ein. Franz Krey veröffentlichte seinen Fortsetzungsroman »Maria und der Paragraph« zuerst in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung und 1931 als Buch beim Internationalen Arbeiter-Verlag. Ärztliche Hilfe fanden Frauen in der Praxis von Martha Ruben-Wolf und ihrem Ehemann Lothar Wolf, die Mitte der zwanziger Jahre in Berlin-Kreuzberg und ab 1926 in Schöneweide praktizierten. Martha Ruben-Wolf, seit 1915 promoviert, war eine der ersten Frauen, die ein Medizinstudium absolviert hatten, und seit 1921 Kommunistin.