Sexualreformerin Martha Ruben-Wolf

»Die Augen muss man sich aus dem Kopf schämen«

Seite 3 – Blind für die Gefahr

Bereits im Folgejahr erschien das zweite Buch des Paares mit dem Titel »Russische Skizzen zweier Ärzte. Zweite Rußlandreise Frühjahr 1926«, 1928 erschien »Deutsche Ärzte im Kaukasus. Dritte Rußlandreise 1927«. Die Begeisterung für das Sowjetsystem kannte nun keine Grenzen mehr. Überall wollten die beiden Menschen in schöner Kleidung erblickt haben, waren in geschmückten Städten unterwegs, hatten hervorragend ausgestattete Arbeiterclubs besucht und ein sagenhaftes proletarisches Kurortwesen kennengelernt. Bisweilen wirkten ihre Berichte grotesk überzogen – so, wenn sie eine Kirche in Batumi besuchen, über die sie schreiben: »Im Innern erblickt der Eintretende an der Stelle des früheren Altars Marx, Engels und Lenin. Vor rotem Tuch heben sie sich feierlich ab. Die Erhabenheit, die einst der Raum seinen Heiligen verlieh, kommt jetzt den Führern der Weltrevolution zu Gute.«

Noch voller Optimismus: mit der Familie im sowjetischen Exil.

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privat

Aus Begeisterung wurde Naivität, eine Naivität, die das Ehepaar Wolf und Ruben-Wolf blind machte für die Gefahr, in die sie sich begaben. Ihr Vertrauen in das sowjetische System offenbart sich insbesondere im letzten Reisebericht, »Im freien Asien«, in dem Lothar Wolf davon berichtet, dass man im Zug einen Genossen kennengelernt habe, über den er humorig schreibt: »Ein baumlanger, blonder Wolgadeutscher. Er erzählt uns in seinem uralten Schwäbisch: ›Ich hab in Zentralasien schwer schaffe misse. Wege der konterrevolutionäre Gefahr. Die andern awer aach. Ich arbeit’ in der Armee. Der andre im Getreidetruscht, ein dritter im Baumwolltruscht usw. Wie mir arbeite? No, mir san Funktionäre der GPU. Mer misse uffpasse. Gelt, was soll sonscht aus dem sozialistischen Uffbau werde? Mir sage immer: Auge und Ohr der Partei.‹«

Als Warnung fassten die Wolfs die Begegnung offenbar nicht auf. Anfang 1934 entschlossen sie sich dazu entschlossen, in ihr Sehnsuchtsland zu emigrieren. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren die beiden in Deutschland als Juden und Kommunisten extrem gefährdet; mit ihren beiden Kindern Sonja und Walter flohen sie in die Schweiz, wo sie ein Jahr lang auf die Erlaubnis warten mussten, in die Sowjetunion überzusiedeln.

Nach schwierigen Anfangsjahren bezogen sie eine kleine Wohnung in Moskau. Martha Ruben-Wolf fand Arbeit als Ärztin; Lothar Wolf betätigte sich als Fremden- und Museumsführer. Im Sommer des Jahres 1936 spielte er in dem Film »Kämpfer« mit, den die Moskauer Filmgesellschaft Meschrabpom unter ihrem deutschen Direktor Hans Rodenberg produzierte.