Die Gedächtniszeit ist vorbei

Shoah und Schablone

Seite 4 – Produkt einer Übergangszeit

Streng genommen, begann die »Gedächtniszeit« (Dan Diner) des Holocaust erst in diesen Jahren. Zwar hatte es schon in den Sechzigern zaghafte Ansätze gegeben. Aber erst in dem Maß, in dem sich das Wechselspiel von Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein auflöste, bewegte sich die Massenvernichtung aus den Vororten der Erinnerung in ihr Zentrum. Der Schock, den die Fernsehserie »Holocaust« 1978/79 nicht nur in Deutschland auslöste, ging weniger auf ihre künstle­rische Qualität als auf den Zeitpunkt ihrer Entstehung zurück. Auch Pierre Vidal-Naquet vollzog eine Wandlung. Der Historiker, der die Internierungslager in Algerien 1960 mit Auschwitz gleichgesetzt hatte, wurde zu einem der wichtigsten Gegenspieler der französischen Holocaust-Leugner. Seinen KZ-Vergleich nahm er bald öffentlich zurück.

Zugleich entwickelte sich ein stärkeres Bewusstsein von der Spezifik des Holocaust. Die Rückkehr des Partikularismus beförderte die Erkenntnis, dass der Massenmord ein explizit an Juden begangenes Verbrechen war. Da der Universalismus jedoch auch weiter eine große Ausstrahlungskraft besaß, verband sich dieses Wissen mit der Einsicht, dass der Holocaust eine universelle Tat war. Er war, wie Dan Diner einmal schrieb, ein Verbrechen, das »an der Menschheit mittels der Vernichtung einer partikularen Gruppe, eben der Juden«, begangen wurde. Das Wissen über die Besonderheit des Holocaust ist somit auch das Produkt einer Übergangszeit, in der der Universalismus und der Partikularismus eine erkenntnisträchtige Verbindung eingingen.

Diese Zeit ist vorbei. Dafür spricht nicht zuletzt die Leichtigkeit, mit der selbst im seriösen Feuilleton darüber sinniert wird, ob die US-amerikanischen detention camps nicht doch Gemeinsamkeiten mit den Konzentrationslagern der Nazis – und damit auch: mit Auschwitz – haben. Die Gründe für diese Unbefangenheit sind vielfältig. Von besonderer Bedeutung ist jedoch die erneute Verschiebung des Verhältnisses von Universalismus und Partikularismus. Zeitweise konnte der Eindruck entstehen, als würde die Spezifik des Holocaust vor allem von Seiten partikularistischer Strömungen in Frage gestellt.