Auf den Spuren eines Sprach-Syndroms

Die Genau-Sager

Seite 4 – Totalitäre Unduldsamkeit

Das solcherart von einer Sprachzuckung zur handgreiflichen Belästigung und schließlich zu massenhaften Übergriffen auf die körperliche Integrität der Mitmenschen führende Genau-Syndrom wirkt wie eine performative Schwemme, die noch vor kurzem geläufige Interjektionen wie »Nein«, »Pfui« oder »Quatsch« so weit zurückgedrängt hat, dass diese, werden sie doch einmal geäußert, wie obszöne Unbotmäßigkeiten erscheinen. Da­rin ist das Genau-Wort, so fürsprechend und jasagend es daherkommt, zugleich Ausdruck einer totalitären Unduldsamkeit, die ihrer selbst so gewiss ist, dass sie den Widersprechenden gar nicht mehr mundtot machen zu müssen glaubt.

Die objekt- und grundlose Affirmation ist die vollständige Annihilation: Fragt mich nichts und entgegnet mir nicht, widersprecht mir nicht, ja stimmt mir nicht einmal zu, denn nicht nur Frage, Entgegnung und Einwand, sondern auch Zustimmung setzt den Unterschied zwischen mir und euch voraus, den ich zugunsten der fugenlosen Einheit von Ich, Welt und Gewalt überwunden habe. So ist aus dem »Genau« das Gegenteil dessen geworden, was das Wort, seltener und elegant verwendet, bis vor kurzem noch ausdrückte: das von Freude und Erkenntnis belebte Glück, dass jemand anders das, was man nur unzureichend in Worte fassen konnte, triftig auf den Punkt gebracht hat.

Mittlerweile hat sich der Genau-Forscher Gewissheit verschafft, dass die betrieblich erforderte Antragsprosa in den Sozial- und Geisteswissenschaften sein Vorhaben wenig aussichtsreich erscheinen lässt. Stattdessen wird er seine Strichlisten, ­Notizen und Transkriptionen als Marginalien für ein noch zu gründendes Eckhard-Henscheid-Archiv (»Geht in Ordnung, sowieso, genau«) aufheben, wo sie hoffentlich genau dem Vergessen anheimfallen, das ihnen in einer Welt gebührt, die sich des Wortes so ungenau bedient, wie die erbärmlich gegenwärtige es tut.