Donatella Di Cesare über die Regierungskrise in Italien

»Eine tiefe Krise der Demokratie«

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Interview Von

In Ihrem Buch »Resident Foreigners: A Philosophy of Migration« beschreiben Sie den »Krieg des Staates gegen NGOs und Migranten« als wesentliches Merkmal des heutigen Souveränismus. Was ist neu daran?
In den vergangenen 14 Monaten, also seit Amtsantritt der Regierungskoalition aus Lega und M5S, wurde dieser Krieg gegen Migranten und NGOs zur obersten Priorität erklärt. Das hat Salvini ganz allein geschafft, der M5S hat bis vor wenigen Tagen weder seine Rhetorik noch seine Politik kritisiert. Neu ist, dass dies im Europa der Nachkriegszeit geschieht, das sich nicht zu einer neuen politischen poststaatlichen Form entwickelt hat. Stattdessen bleibt es ein Konglomerat von Nationen, die miteinander konkurrieren. Nichts hat dies in den vergangenen Jahren so ­gezeigt wie die Migrationspolitik. Gleichzeitig hat der Nationalstaat, global gesehen, als politische Form seine Bedeutung verloren. Der Souveränismus entsteht als Reaktion auf den ­Verlust der Souveränität und sagt: Dieses Land gehört mir und ich entscheide jetzt, wer das Recht hat, hier zu leben, und wer nicht.

Sie heben in dem Buch eine Kategorie hervor, die des »coabitare«, des Zusammenwohnens. Sie kritisieren allerdings die liberale Interpretation dieses Begriffs, wonach sich jeder aussuchen könne und dürfe, mit wem er oder sie »zusammenwohnt«. Was bedeutet das aus einer antirassistischen, antifaschistischen Perspektive?
Ich rede selbstverständlich nicht von der privaten Ebene des convivere, des Zusammenlebens, das zu gestalten jedem Einzelnen überlassen ist. Mir geht es um die öffentliche Dimension. In der Debatte über Migration werden diese zwei Ebenen häufig vermengt. Wie oft hat man, zumindest in Italien, die Formel gehört: »Wir können nicht alle aufnehmen!« oder »Nimm sie doch bei dir auf!«, als wäre der Staatsbürger als solcher Miteigentümer des Nationalstaats, in dem er zufällig auf die Welt gekommen ist. Staatsbürgerschaft ist aber nicht mit Besitz verknüpft. So gesehen können wir nicht frei entscheiden, mit wem wir zusammenleben, weil dies unweigerlich zur ethnischen ­Selektion führen würde. Das ist de facto das, was an den Grenzen passiert – nicht nur an den europäischen. Auf die ­Gefahr hin, dass manchen der Vergleich unzulässig ­erscheint: Man muss darauf hinweisen, dass dies in der Geschichte schon passiert ist. Die Rassegesetze im faschistischen und nationalsozialistischen Regime waren auch der Versuch, Fremde aus dem nationalen Territorium fernzuhalten. Dass dies heute, in Europa, immer wieder vergessen wird, ist sehr besorgniserregend.