Gespräch mit Ayad Al-Ani über die Arbeitskämpfe von Crowdworkern und die Flexibilität des digitalen Kapitalismus

»Die Gewerkschaften müssen kooperieren«

Ayad Al-Ani, Zukunftsforscher, über Auswirkungen der Plattformökonomie auf die Arbeitswelt.
Interview Von

Wie würden Sie das Geschäftsmodell von Plattformen wie Amazon oder Uber beschreiben?
Eine Plattform ist ein Intermediär, ein Vermittler, der zwischen Angebot und Nachfrage steht. Je mehr Transaktionen über eine Plattform laufen, desto mächtiger wird sie. Sie hat dann ein unend­liches Reservoir an Daten und kann damit das Verhalten der einzelnen Teilnehmer vorhersagen.
Das ist gleichzeitig das Risiko für die Firmen, die an diese Plattformen angeschlossen sind: Sie verlieren das Interface, die direkte Kommunikation mit ihren Kunden. Sie sind abhängig von den Plattformen, die ihnen die Marktsicht verstellen. Es besteht die Gefahr einer Quasimonopolbildung. Diese Monopole nutzen ihre Marktmacht, um Gebühren und Daten von ihren Nutzern zu verlangen. Es ist noch völlig unklar, welche Auswirkungen das auf die Gesellschaft und auf die kapitalistische Ökonomie haben wird. Die Lehrbücher müssen umgeschrieben werden.

Die Nutzergruppen und die Daten, die dort gehandelt werden, sind also quasi die Produktionsmittel dieser Unternehmen?
Genau. Die Daten sind die Kapitalanlage. Man könnte sagen: Produktionsfaktoren. Die Maschinerie ist der Algorithmus. Die große Idee der Plattformen ist, dass sie Ihnen als Kunden sogenannte kaufadäquate Dienstleistungen und Produkte anbietet, von denen der Algorithmus weiß, dass Sie sie brauchen und bezahlen können.
Paradoxerweise war der Ausgangspunkt dieser Entwicklung ein ganz anderer. Die Open-Source-Bewegung am Anfang des Jahrtausends wollte Menschen über Plattformen zusammenzubringen, die eine Leidenschaft teilten und gemeinsam etwas produzieren wollten, ohne sich den Marktmechanismen unterzuordnen. Ihre Produkte – Mozilla, Wikipedia oder Linux – sind sogenannte Allmendegüter, also für den Nutzer kostenlos verwendbar. Als Betriebswirte konnten wir zunächst nicht verstehen, warum diese Leute für ihre Arbeit kein Geld verlangt haben. Dies widersprach der gängigen Managementlehre, die ja in der Regel eine Motivierung und Anreize von außen und vor allem durch Geld unterstellte. Es gab damals Stimmen, die meinten, dass hier sogar die Möglichkeit zur Schaffung eines dritten Wirtschaftssektors bestand. Neben dem privaten und öffentlichen tritt hier Peer-to-Peer (P2P) hinzu. P2P im Sinne von: Der Peer ist der freie Produzent, der sich selbstbestimmt mit anderen Peers zusammentut, um etwas zu schaffen. Das kann Software sein, Drogenberatung oder Nachbarschaftshilfe.
Allerdings konnte dieser Ausbruch aus der gängigen Verwertungslogik nur gelingen, weil die meisten Peers ja tagsüber in traditionellen Unternehmen angestellt waren. Der Kapitalismus finanzierte also diesen Ausbruch.
Irgendwann haben dann Unternehmen diese Allmende verwertet. Sie waren erstaunt, dass ihre Mitarbeiter nach 17 Uhr selbstorganisiert innova­tive Dinge taten, und wollten diese Produkte und Ideen nun im globalen Wettbewerb nutzen. Schließlich hatte man zuvor zu viel Wert auf Kostensenkung gelegt und suchte händeringend nach Innovationen. Heute verdient IBM einen Großteil seines Umsatzes mit Beratungsleistungen zu Linux. Dies war zugleich die Geburtsstunde von Crowdsourcing: Peers wurden zu Crowdworkern, die nun für Unternehmen über Plattformen arbeiteten. Später traten Plattformen wie Amazon, Uber und Alibaba auf und nutzten die Idee der über Plattformen gebündelten Produzenten, um traditionellen Handels- und Taxiunternehmen Konkurrenz zu machen. Das ist diese unendliche Flexibilität des Kapitalismus, wesensfremde Konzepte um ihren emanzipatorischen Anspruch zu reduzieren und so zu integrieren und zu verwerten.

War das überraschend? Erfolgreiche Plattformen müssen benutzerfreundlich sein, einen Kundenservice bieten und sich professionalisieren. Reine Open-Source-Software war lange nur eine Option für Eingeweihte und Nerds.
Die P2P-Bewegung hatte durchaus bemerkt, dass der kapitalistische Sektor andockt. Die fanden das am Anfang nicht schlecht, weil sie dachten: »Wir machen die Dinge, die wir tun wollen, aber diese sind nicht immer marktgerecht. Vielleicht können wir durch diese Kooperation höhere Marktreife für unsere Produkte erlangen.« So kam es zu einem kompletten Ausverkauf, denn es war keine Kooperation, sondern eine Vereinnahmung.
Was aber paradox bleibt: Crowdworking-Plattformen tun so, als ob die alte P2P-Welt noch existiere, indem sie suggerieren: Du entscheidest selbst, welches Arbeitspaket du machst und wann du arbeitest. Da klingt die ursprüngliche Idee des Austritts aus dem Kapitalismus mit dem Ziel der Selbstverwirklichung an.

 

Sind Crowdworker für die Firmen billige Innovateure?
Das traditionelle Unternehmen versucht verzweifelt an günstige Innovationskräfte heranzukommen, weil die traditionelle Top-down-Hierarchie zwar eine effiziente Produktion steuern kann, aber nicht gut darin ist, erratische und zufallsgesteuerte Innovationsprozesse loszutreten. Das ist eine Achillesferse der traditionellen Hierarchie. Vor knapp zehn Jahren erschien ein Artikel vom Silicon-Valley-Investor Peter Thiel, in dem er ungewohnte Töne anschlug: Vielleicht sind wir nicht so innovativ, wie wir denken. Von den Zielen, die die Menschen in den sechziger und siebziger Jahren hatten, ist nicht viel übriggeblieben. Damals glaubte man, man könnte Krebserkrankungen bald besiegen. Die Innovationsraten der grünen Revolution waren damals höher als das, was wir heute im Agrarsektor erleben. Man ist zum Mond geflogen. Man baute unglaub­liche Städte wie Brasilia. In dieser Situation – der Soziologe Immanuel Wallerstein meinte sogar, dass der Kapitalismus langsam für den Kapitalisten uninteressant wurde – kam P2P als ­Innovationsquelle wie gerufen und der Sektor musste nur überzeugt werden, mitzumachen.

Was bedeutet die Plattformökonomie und die Integration von P2P-Konzepten für die Arbeitswelt?
Diese P2P-Bewegung war eine Fluchtbewegung. Sie hat nicht das System in Frage gestellt, sondern wollte mit ihren von der kapitalistischen Hierarchie ungenutzten Talenten und Ideen Dinge machen, die sie wollte. Es entsteht eine meritokratische Produktionsgemeinschaft. Credentials zählen nicht mehr. Das Einzige, was zählt, sind die Beiträge, die ich für eine Plattform ­geleistet habe. Dieser Beitrag wird von meinen Peers evaluiert. Wenn ich gut bin, steige ich auf, wenn ich nicht gut bin, werden die mich zwar nicht rausschmeißen, aber ich werde obsolet. Gerade dieser meritokratische Ansatz ist für den Kapitalismus so verlockend und war ein guter Anknüpfungspunkt, der die Vereinnahmung leichter machte.

Wie können Gewerkschaften sinnvoll aktiv werden, wenn die Macht der Arbeiter auf diesen Plattformen vor allem auf ihren Ideen und ihrer Kreativität basiert?
Widerstand war nie Teil des Ganzen. Der Crowdworker ist in einer bittersüßen Situation. Die Abhängigkeit von der Plattform wird registriert. Gleichzeitig suggeriert diese ja: Du bist ein eigenständig agierender Mitarbeiter. Du bist agil und kreativ. Du hast das Heft in der Hand.
In Berlin gab es mal ein Werbeplakat: »Du feierst dich als Teil der Berliner Kreativszene. Sie Dich als günstige Arbeitskraft.« Das ist es genau. Gleichzeitig sind Gewerkschaften ja traditionelle Hierarchien und tun sich mit diesen Arbeitnehmern schwer, noch dazu, weil diese Crowdworking zumeist als Zuverdienst sehen, als Möglichkeit, zu lernen und Erfahrungen zu sammeln, aber nicht als alleinige Lohnquelle.

 

Wie reagieren deutsche Gewerkschaften auf dieses neue Feld?
Vor ein paar Jahren machten sie sich große Sorgen, ob da nicht ein neuer Arbeitsmarkt für Crowdworker entsteht, die sich nicht organisieren können.
Wir haben eine Studie dazu gemacht und die Crowdworker bei zwei Plattformen gefragt: Braucht ihr eine Gewerkschaft? Es war faszinierend zu sehen, als diese meinten: »Wir brauchen jemanden, der uns in Arbeitskonflikten berät und unterstützt.« Gleichzeitig haben aber die Crowdworker die Gewerkschaft nicht als Organisationsmacht gesehen. Dies ist jedoch die Logik aller gängigen politischen Institutionen: Je mehr Mitglieder, desto mächtiger und desto mehr politischer Einfluss. Dies verlangt vom Mitglied, quasi immer solidarisch zu sein. Das Individuum tritt zurück. Die Ziele werden top-down definiert, wie in einem Unternehmen. Das haben die Crowdworker abgelehnt. Wenn wir eines können, so offenbar die Meinung, dann uns über soziale Netzwerke selbst  organisieren.
Ein hartgesottener Gewerkschafter, den ich sehr schätze, sagte mir mal über die Crowdworker: Mit denen ist kein politischer Kampf zu gewinnen. Im ersten Augenblick dachte ich: Welcher politische Kampf? Was meint er? Für Gewerkschaften sind Crowdworker also eine schwierige Zielgruppe.

Ähnlich wie sich Unternehmen von McKinsey beraten lassen, holen sich Crowdworker also Hilfe bei Gewerkschaften und lassen sich Anwälte zur Verfügung stellen?
Ja, wobei der Widerspruch ist: Die Gewerkschaft könnte ihnen am meisten helfen, wenn sie sehr mächtig wäre. Es muss also gelingen, dass die Gewerkschaften mit den Selbstorganisationen der Crowdworker kooperieren, vielleicht ihnen auch einen politischen, Aktionsrahmen liefern. Was wir gelernt haben: Die Crowd überschätzt sich oft in politischen Fragen. Es ist eine Sache, sich zu einem Projekt zusammenzutun, aber eine völlig andere, politisch zu agieren. Spannend wäre doch auch die Idee, wenn Gewerkschaften und andere die Crowdworker ­unterstützen könnten, arbeitnehmerfreundliche, genossenschaftliche Plattformen und Start-ups zu bauen. Sie könnten dies nicht immer nur den Investoren zu überlassen, die etwa Genossenschaften kein Geld geben.