Rassismus, Antisemitismus und der Anschlag von Halle

»Eine Überraschung war es nicht«

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Interview Von

In welchem Zusammenhang stehen die Taten mit den politischen Entwicklungen in Deutschland seit 2015? Welche Verantwortung tragen die AfD und Pegida?
Antisemitismus und Rassismus gibt es nicht nur in der AfD. Die Nazis fühlen sich durch die Erfolge der Partei und durch die neue Salonfähigkeit des ­Ressentiments auf jeden Fall ermutigt, das ist ein großes Problem. Das war vorher nicht so gebündelt. Aber Rassismus und Antisemitismus gab es letztlich immer auch in der CDU, in der FDP, in der SPD, in fast allen Parteien.

Bei wem sehen Sie die gesellschaftliche Verantwortung für die Tat?
Die gemessene Zustimmung zu Anti­semitismus und Rassismus ist ziemlich gleich bleibend sehr hoch, und das eigentlich, seit es Untersuchungen dazu gibt. Gerade der Antisemitismus wird gerne verdrängt oder ausgelagert. Ich denke, das hängt zusammen mit einer Geschichtsverklärung auch in den eigenen Familiengeschichten. 18 Prozent der Deutschen glauben, dass ihre Familien während der Shoah Juden gerettet hätten. Das wären mehr Leute, die Juden gerettet haben sollen, als es 1933 Juden in Deutschland gab. Zwischen dieser Nichtauseinandersetzung in den Familien und der Leugnung der Verstrickung der Großeltern und Urgroßeltern in die Shoah besteht ein Zusammenhang mit der Empathielosigkeit für die Betroffenen von Rassismus und Antisemitismus. Die Verantwortung der deutschen Gesellschaft wäre es, dies auch tatsächlich an sich heran­zulassen und die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen, jenseits von Lippenbekenntnissen.

Innenminister Horst Seehofer fordert mehr Mittel und Kompetenzen für die Polizei. Was muss Ihrer Meinung nach passieren?
Es gibt da ein Dilemma. Jüdische Einrichtung brauchen bewaffnete Sicherheitskräfte und müssen geschützt werden, weil sonst größere Katastrophen passieren. Zugleich ist bekannt, dass in großen Teilen der Sicherheitsbehörden Rassismus und Antisemitismus ein riesiges Problem darstellen. Mit diesem Dilemma müssen wir erst einmal leben, denn die Forderung nach bewaffneten Sicherheitskräften hat Priorität.