»Meine Heimat ist jetzt Israel«
Sie haben gesagt, Israel sei das Paradies und der Libanon die Hölle. Wie meinen Sie das?
Meine Äußerung bezieht sich allgemein auf die Wertschätzung des Menschen. Diese Wertschätzung existiert im Libanon nicht. Es macht dort keinen Unterschied, ob jemand zur reichen Elite des Landes gehört oder bettelarm ist. Die Achtung voreinander ist verloren gegangen, ganz besonders die Achtung, die die jeweiligen Ethnien und Konfessionsgruppen voreinander haben sollten. Meine Äußerung bedeutet, dass dort, wo der einzelne Mensch nichts mehr zählt und seine Würde antastbar ist, die Hölle ist.
Wie konnte der Libanon, der früher als die »Schweiz des Nahen Ostens« bezeichnet wurde, sich so entwickeln?
Der Libanon ist wunderschön, doch leider haben die Menschen dort mit Hilfe ausländischer Kräfte, vor allem aus dem Nahen Osten, das Land zerstört.
Welche Kräfte meinen Sie genau?
Trotz einiger Unruhen entwickelte sich der Libanon nach den beiden Weltkriegen zu einem modernen Staat in der Region. Geprägt von der französisch-europäischen Kultur, die das Land schon seit Jahrhunderten beeinflusst hat, lebten die einzelnen Ethnien und Konfessionen relativ friedlich miteinander. Zwar bekämpften sich schon in den fünfziger und sechziger Jahren arabische Nationalisten und prowestliche christliche Gruppen, doch der Konflikt eskalierte erst mit der Ankunft der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), die 1970 während des Schwarzen Septembers aus Jordanien vertrieben wurde und praktisch einen Staat im Staate schuf.
1975 begann ein Bürgerkrieg im Libanon, der erst 1990 endete.
Dieser Krieg hat den Charakter des Libanon für immer verändert. Viele ausländische Kräfte, die ihre Interessen durchsetzen wollten, mischten dort aktiv mit und hetzten die einzelnen Gruppen noch mehr gegeneinander auf. Vor allem die Brutalität der syrischen Armee und der militanten PLO waren unmenschlich und traumatisierten nicht nur mich.
Als der Konflikt ausbrach, waren Sie noch Schüler und lebten als schiitischer Araber mit Ihrer Familie im Süden des Landes in einem Dorf, das die PLO kontrollierte.
Ich bin 1962 geboren und erlebte den Ausbruch der Feindschaft als Schüler. Die PLO-Milizen unterdrückten die schiitische Bevölkerung besonders brutal. Zahlreiche Mitglieder meiner Familien gingen in den Widerstand und kamen dabei ums Leben. Der Konflikt im Libanon wurde noch erbarmungsloser geführt als gegenwärtig der Krieg in Syrien. Es gab damals nur weniger Medien, die berichteten. Folter und Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Ende der siebziger Jahre war ich schon verheiratet und wir bekamen eine Tochter. Noch vor ihrem Schuleintritt wurde sie umgebracht. Vor meinen Augen wurde mein kleines Mädchen von PLO-Kämpfern missbraucht. Danach haben sie das Kind an zwei Autos gebunden und sind in verschiedene Richtungen gefahren.
Es ist heute nur schwer vorstellbar, doch damals kämpfte wirklich jeder gegen jeden. Schon am Dialekt erkannte man die ethnische Zugehörigkeit einer Person, das konnte Menschen das Leben kosten. Da Menschen oft nur wegen ihres christlichen oder muslimischen Vornamens ermordet wurden, verbrannten viele ihre Papiere und Dokumente. Um dann ohne Ausweis die vielen Checkpoints zu passieren, ohne erschossen zu werden, mussten sich vor allem Männer nackt ausziehen, um so (anhand ihrer Beschneidung oder Nichtbeschneidung, T. L.) ihre christliche oder muslimische Zugehörigkeit zu beweisen. Unzählige Gräueltaten wurden damals von allen Parteien begangen.
Mit dem Einmarsch der israelischen Armee (IDF) bei der »Operation Litani« im Jahr 1978 und dann bei ihrer Invasion des Libanon im Juni 1982, als sie den Süden besetzte, betrat ein weiterer Akteur das Feld. Stand die Bevölkerung der IDF feindlich gegenüber?
Bei einer Mehrheit der Libanesen war sogar das Gegenteil der Fall. Die christlichen Milizen, mit denen die IDF verbündet war, unterstützen die israelische Invasion. Doch viele Muslime, sowohl Sunniten als auch Schiiten, begrüßten die israelischen Streitkräfte mit Blumen und Süßigkeiten. Sie sahen sie als Befreier und hofften, dass ihre Truppen die PLO aus dem Libanon vertreiben würde.
Diese Hoffnung hat sich nach schweren Kämpfen auch erfüllt. Die israelischen Streitkräfte hielten eine Sicherheitszone im Süden besetzt. Die meisten PLO-Milizen verließen den Libanon und gingen nach Tunesien. Es entstand jedoch ein Machtvakuum, das eine noch viel radikalere Gruppe füllte: Die 1985 gegründete proiranische paramilitärische Terrororganisation Hizbollah stieg unaufhaltsam zur stärksten Macht im Libanon auf und verwickelte die IDF in einen schmutzigen Guerillakrieg, bis diese im Mai 2000 endgültig abzog. Sie waren Mitglied dieser radikalislamischen Miliz. Wie kam es dazu und welche Aufgaben mussten Sie erfüllen?
Die Hizbollah ist aus dem radikalschiitischen Umfeld entstanden, dem auch ich entstamme. Zahlreiche Bekannte und Familienmitglieder aus meinem Dorf und der Region gehörten von Anfang dieser Organisation an, und so bin auch ich in die Hizbollah gegangen. Auch wenn viele das nicht glauben können, so habe auch ich, heute ein streng orthodoxer Jude, der einen Strejml (schwarze jüdische Kopfbedeckung aus Zobelschweifen, T. L.) trägt, diese Ideologie aufgesogen. Ich lebte diese Kultur. Alles zum Wohle des Libanon. Ich war zuerst eine Art Verbindungsmann und spähte für die Hizbollah unter anderem die syrische Armee und konkurrierende Milizen aus.
Wie entstand der Kontakt zu den Israelis?
Kurz nach der israelischen Invasion stand meine Frau vor der Niederkunft. In unserer Ortschaft gab es weit und breit keine medizinische Hilfe, kein Auto, keine Klinik und nicht mal eine Hebamme. Als eine Militärpatrouille der IDF vorbeifuhr, hielt ich sie an und bat um Unterstützung. Zu meiner Überraschung riefen sie einen Hubschrauber, der meine schwangere Frau ins Rambam-Krankenhaus nach Haifa brachte.
Die Hilfe der israelischen Streitkräfte war nicht ganz uneigennützig.
Natürlich suchte der israelische Militärgeheimdienst immer nach Libanesen, die sie mit Informationen versorgen konnten. Ich war ihnen zu Dank verpflichtet und freundete mich mit dem verantwortlichen Offizier an.
Warum entschieden Sie sich, dem »Feind« zu helfen?
Durch meine Tätigkeit in der Hizbollah wurde mir immer mehr bewusst, dass die Organisation die Interessen des Iran und nicht die des Libanon vertrat. Die schiitische Miliz wird vom Mullahregime in Teheran zum Kampf gegen Israel benutzt, dessen Vernichtung zur Staatsräson der islamischen Republik gehört. Dieses Ziel hat sich auch die Hizbollah auf die Fahnen geschrieben.
Waren Sie dann als Doppelagent tätig?
Für die Israelis, ja. Ich war zuerst dagegen. Doch ihr Militärgeheimdienst wollte mich als Agent anwerben. Ich sollte das Vertrauen der Hizbollah gewinnen, um dann die IDF mit allen möglichen Informationen über bevorstehenden Aktivitäten der Miliz versorgen.
Erregte Ihre Tätigkeit Verdacht?
Eines Nachts fielen mehrere Männer über mich her und brachten mich an einen unbekannten Ort, wo sie mich in einen unterirdischen Bunker sperrten und mehrere Monate lang befragten und folterten. Einer meiner Folterer war Imad Mughniyeh …
… der spätere Hizbollah-Stabschef, den 2008 die CIA und der Mossad in Damaskus töteten.
Im Laufe der Jahre wurde er zum meistgesuchten Terroristen weltweit, weil er unter anderem in die Terroranschläge auf die US-Botschaft 1983 in Beirut mit 63 Toten sowie 1992 auf die israelische Botschaft in Buenos Aires mit 30 Opfern verwickelt war. Wenn ich nur seine langsamen Schritte hörte, fing ich an, in meiner Zelle zu zittern. Er hängte mich an meinen Händen auf und schoss dann auf das Seil, so dass ich in eine Wanne mit kochendem Wasser fiel. Bei seiner Folter verlor ich jedes Mal das Bewusstsein. Um mich endgültig zu brechen, fuhr man mich in einen Wald, wo mir Mughniyeh meinen 18 Monate alten Sohn brachte. Er übergoss ihn mit Benzin, zündete ihn an und ließ ihn bei lebendigem Leib vor meinen Augen verbrennen.
Trotzdem stiegen Sie innerhalb kürzester Zeit zum wichtigen Funktionär in der Miliz auf.
Ich war entschlossen, mich an meinem Peiniger zu rächen. Nach und nach gelang es mir, Mughniyehs Vertrauen gewinnen. Er setzte mich in einer wichtigen Position beim Geheimdienst der Hizbollah ein. Mein Auftrag war es, die Militäraktivitäten der israelischen Armee und konkurrierende Widerstandsgruppen auszuspionieren.
Zu dieser Zeit kontaktierte Sie der israelische Auslandsgeheimdienst Mossad. Was waren Ihre Aufgaben und wo trafen Sie ihren Verbindungsmann?
Über meine Beziehungen zum Militärgeheimdienst der IDF, mit dem ich weiter korrespondierte, kam der Kontakt zum Mossad zustande. Sie wussten, dass ich mittlerweile eine bedeutende Position in der Hizbollah besetzte und auch ihre bedeutenden Funktionäre kannte. Sie wollten, dass ich sie mit wichtigen Informationen über Waffenlager der Hizbollah sowie gewisse Verteidigungsstrategien, bestimmte Personen und geplante Angriffe versorge. Meistens traf ich die Israelis nachts in der Nähe des Grenzgebiets. Manchmal auch, wenn uns die Artilleriesalven um die Ohren flogen.
Sie wurden 1989 gefasst und mussten wieder ins Gefängnis.
Ich fuhr nachts in meinem Auto vollbepackt mit technischen Geräten für die Israelis Richtung Grenzgebiet, als mich die syrische Armee anhielt. Obwohl ich in der Nähe von Damaskus für ein Jahr ins Gefängnis kam und wieder brutal gefoltert wurde, setzte ich nach meiner Freilassung meine Spionage für den Mossad fort. Mit meiner Hilfe wurde 1992 auch der damalige Hizbollah-Generalsekretär Abbas al-Moussawi getötet.
Wie nahm Ihre Familie im Libanon das auf? Werden Sie als Verräter betrachtet?
Überhaupt nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Sie sind sehr stolz auf mich und wissen auch, dass ich das jederzeit wieder tun würde.
Bis wann spionierten Sie für die Israelis?
Ab 1997 wurde meine Situation immer gefährlicher. Der Mossad schlug vor, mich und meine Familie nach Israel zu bringen und ich willigte ein, was sich schließlich auch als die richtige Entscheidung erwies. Drei Jahre später zogen sich die IDF nach 22 Jahren Präsenz endgültig aus dem Libanon zurück. Mit ihnen kamen über 7 500 meiner ehemaligen Landsleute. Viele von ihnen waren Christen und Mitglieder der mit Israel verbündeten Südlibanesischen Armee. Sie befürchteten Racheakte der Hizbollah.
Im Unterschied zu Ihnen konvertierten die wenigsten Libanesen zum Judentum. Was hat Sie und Ihre Familie zu diesem Schritt bewogen?
Während meiner Haft träumte ich einmal, dass ich als Jude an einem besonderen Ort, in einem schönen Haus lebte, wo das Licht besonders hell war. Als ich aufwachte, sah ich für einen kurzen Moment das Licht. Diese Eingebung brachte mich dazu, mich intensiver mit Religionsfragen auseinanderzusetzen. In meiner Zelle las und studierte ich den Koran, bis ich ihn irgendwann auswendig kannte. Ich bin fest davon überzeugt dass das einzelne Leben in Gottes Hand liegt und dass er wollte, dass ich weiterlebe.
Der Koran hat mich letzten Endes zum Judentum gebracht. Neben seiner Achtung vor dem Alten und Neuen Testament sowie vor dem Leben und der Nächstenliebe lehrte er mich aber auch, dass die Wahrheit in der Tora liegt. Als ich dann Jahre später nach Safed in Obergaliläa kam und vor meinem neuen Heim stand, wurde mir klar, dass es genau das Haus und die Gegend sind, welche mir im Traum während meiner Gefängniszeit erschienen waren. Damals hatte ich nicht wissen können, dass es in Safed war. Dort besuchte ich auch zum ersten Mal in meinem Leben eine Synagoge und fasste kurze Zeit später den Entschluss zu konvertieren. Ein Mossad-Offizier stellte mich dem Oberrabbiner Shmuel Eliyahu vor, der mir und meiner Familie beim Übertritt zum Judentum zur Seite stand.
Sie wurden sogar Rabbiner und mittlerweile sind Sie und Ihre Familie eng mit der jüdischen Kultur verbunden.
Wir sind alle dankbar, ein freies Leben in Israel zu genießen. Die gesamte Familie ist jüdisch-religiös. Mein ältester Sohn ist streng orthodox wie ich und hat eine europäische Jüdin geheiratet. Meine Kinder sprechen kein Arabisch. Sie lieben Israel und sind stolz, in Eliteeinheiten der israelischen Armee gedient zu haben. Mein Sohn Amos wurde für seinen Einsatz in der Armee sogar vom israelischen Präsidenten Reuven Rivlin ausgezeichnet.
Ihre Lebensgeschichte erregte die Aufmerksamkeit des israelischen Regisseurs Itamar Chen. Er überzeugte Sie, Ihr Leben vor der Kamera zu erzählen, und so entstand 2019 der Dokumentarfilm »The Rabbi from Hezbollah«.
Seine Intention war es vor allem, meinen Lebensweg und mein Schicksal zu präsentieren. Er fand es interessant, die Psychologie und die Entscheidungen in so einer Lebenssituation zu verstehen. Meine Biographie war ihm wichtig, denn sie ist wirklich eng mit den Ereignissen im Nahen Osten verbunden.
Es ist eine Region, die von Konflikten erschüttert wird. Wie sehen Sie den Friedensprozess?
Frieden ist für die Region unumgänglich und Frieden macht man bekanntlich mit seinen Feinden. Doch diese brauchen ebenfalls pragmatische Politiker, um endlich der Gewalt abzuschwören, bevor man sich die Hand reichen kann. Wenn man sich aber die angespannte innenpolitische Lage in Israel ansieht, dann sollte das Land zuerst Frieden mit sich selbst machen.
Bedeutet das, dass die politische Lage vor allem an der israelisch-libanesisch-syrischen Grenze angespannt bleiben und es vielleicht sogar bald wieder Krieg geben wird?
Das prognostizieren die meisten Experten. Fakt ist, dass die Hizbollah mit der Hilfe des Iran den Libanon seit Jahren destabilisiert. Hoffentlich kommt es nicht zur Eskalation, denn der nächste Krieg könnte sich auf die ganze Region ausweiten und auch den Iran und Syrien mit hineinziehen. Die Hizbollah kann besiegt werden. Wichtiger aber ist es wie bei so vielen faschistischen Lehren, ihre Ideologie aus den Köpfen der Menschen zu bekommen. Allerdings braucht es dafür Zeit. Die Hizbollah ist ein integraler Teil des Libanon, und deshalb kann das lange dauern.
Werden Sie den Libanon irgendwann wieder besuchen?
Wenn dieser Staat irgendwann einmal von den Hizbollah-Schergen und seinen iranischen Machthabern befreit ist, dann würde auch ich wieder meinen Geburtsort und meine Familie besuchen. Schließlich ist der Libanon wunderschön. Doch meine Heimat ist jetzt Israel.
Der Konflikt zwischen Israel und der libanesischen Terrororganisation Hizbollah währt bereits 35 Jahre – noch immer zeichnet sich kein Ende ab. Seit dem Libanon-Krieg 2006, der am 12. Juli begann und mit einem Waffenstillstand am 14. August endete, kam es immer wieder zu kleineren Scharmützeln, eine größere Eskalation konnte aber bislang verhindert werden. Doch viele Beobachter meinen, dass die Kämpfe wieder aufflammen könnten. Die Hizbollah fungiert als verlängerter Arm des Iran, der bei der Gründung der Organisation während des libanesischen Bürgerkriegs (1975–1990) eine maßgebliche Rolle spielte. Als einzige Bürgerkriegsfraktion behielt die Hizbollah ihre Waffen und rüstete weiter auf. Sie gilt als der libanesischen Armee militärisch überlegen und bildet einen Staat im Staat.