Obwohl immer mehr ­Menschen in den USA an Covid-19 sterben, will die Regierung von Präsident Trump schnell zur ­Normalität zurückkehren

Wunschdenken gegen die Pandemie

In den USA sterben immer mehr Menschen an Covid-19. Die Regierung unter Präsident Donald Trump beharrt dennoch darauf, schnell zur Normalität zurückzukehren.

Am Sonntag meldete der US-Bundesstaat Florida einen neuen Rekord – knapp 15 300 neue Infektionen mit Sars-CoV-2 wurden an diesem Tag ­registriert, der bislang stärkste Anstieg in einem Bundesstaat. Dennoch soll im dortigen Jacksonville Ende kommenden Monats der Nominierungsparteitag der Republikaner für die Präsidentschaftswahl im November stattfinden, mit Hunderten, wenn nicht gar Tausenden Besuche­rinnen und Besuchern aus dem ganzen Land. Die Regierung unter US-Präsident Donald Trump tut so, als sei das Virus keine Gefahr mehr. Unternehmen drängen darauf, die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie weiter zu lockern. Nach den Sommerferien sollen die Schulen den Betrieb wieder aufnehmen, auch in Florida.
Damit folgt der Gouverneur von Florida, der Republikaner Ron DeSantis, dem von seiner Partei vorgegebenen Kurs. Trump sagte am Dienstag voriger Woche in einer öffentlichen Stellungnahme, die Regierung wolle nicht, dass die Schulen aus politischen Gründen geschlossen blieben. Man werde »sehr viel Druck auf die Gouverneure und alle anderen ausüben, damit sie die Schulen wieder öffnen«. Trump weiß, dass es für viele Eltern so gut wie unmöglich ist, wieder zur Arbeit zurück­zukehren, solange ihre Kinder nicht in die Schule können. Zudem will er mit Blick auf den anstehenden Wahlkampf einen wirtschaftlichen Aufschwung oder zumindest den Anschein eines solchen herbeiführen.

In 43 der 50 US-Bundesstaaten ist die Zahl der Neuinfektionen pro Tag in den vergangenen zwei Wochen gestiegen.

Doch die nationale Gesundheits­behörde »Centers for Disease Control and Prevention« (CDC) hat bereits ­Mitte Mai strikte Richtlinien zur Wiederaufnahme des Schulbetriebs ver­öffentlicht. Demnach sollten nur Schulen geöffnet werden, die sich in Gebieten mit »minimaler bis mäßiger« Infektionsrate befinden. Menschenmengen sollten unbedingt vermieden werden, die Tische in einem Abstand von mindestens 1,80 Meter voneinander aufgestellt und mit Plexiglasscheiben abgetrennt werden. Zudem sollte der Unterricht zeitlich gestaffelt werden. Da die meisten US-amerikanischen Schulbezirke das nicht einhalten können, fordert die Regierung, neue Richtlinien zu formulieren oder, wie Bildungsministerin Betsy DeVos am Sonntag anregte, die bestehenden als »flexibel« zu betrachten.

Die US-Regierung hatte mehr als vier Monate Zeit, die Bildungsministerien der Bundesstaaten mit zusätzlichen finanziellen Mitteln zu unterstützen. Das hat sie nicht getan. Sollten die Schulen tatsächlich wiedereröffnet werden, wird man zusätzliches Personal brauchen, auch medizinisches Fachpersonal. Doch in den USA herrscht momentan ein krisen­bedingter Fachkräftemangel. Recherchen der britischen Tageszeitung The Guardian und des Nachrichtenportals Kaiser Health News zufolge sind bislang wahrscheinlich knapp 800 medizinische Angestellte an Covid-19 gestorben, die übrigen völlig überfordert. Die Regierung hat keine Antwort darauf, wo das Geld für zusätzliches medizinisches Personal, für Gesichtsmasken und Plexiglasscheiben herkommen soll. Die rasche Verbreitung des Virus will sie offenbar auch künftig einfach ignorieren.

Die Zahlen sind schockierend. In 43 der 50 Bundesstaaten ist die Zahl der Neuinfektionen pro Tag in den vergangenen zwei Wochen gestiegen. Der Johns Hopkins University zufolge sind inzwischen bei mehr als drei Millionen US-Amerikanerinnen und US-Amerikanern Infektionen mit Sars-CoV-2 nachgewiesen worden, mindestens 135 000 sind Stand Montag an oder mit Covid-19 gestorben. Kalifornien, der bevölkerungsreichste Bundesstaat, hat über 7 000 Tote zu beklagen, knapp zehn Prozent davon in der vergangenen Woche. Ähnlich sieht es in vielen anderen sogenannten sun belt states aus, den sonnigen Bundesstaaten im Süden des Landes. In Texas gab es bislang über 3 000 Todesfälle, 15 Prozent davon vergangene Woche. In Florida liegt die Zahl der Toten bei über 4 000; auch hier gab es vergangene Woche einen zweistelligen prozentualen Anstieg. In Alabama, Georgia und Arizona sind mehr als 80 Prozent der Betten auf Intensivstationen belegt.

Pflegeheime und Gefängnisse, aber auch Fabriken und andere Betriebe sind zu Infektionsherden geworden. Besonders betroffen sind Schwarze, Latinos und die US-amerikanischen Ureinwohner. Diese Gruppen haben zudem einen schlechten Zugang zur Gesundheitsversorgung. Entlang der Autobahn Interstate 95 breitet sich das Virus vom sun belt nach Norden aus; in Städten im Nordosten wie Philadelphia, Pennsylvania, und Baltimore, Maryland, wird eine zweite Welle befürchtet, wie das Magazin The Hill am Sonntag berichtete. Expertinnen und Experten warnen, die USA hätten kaum noch Zeit, die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Ohne eine landesweite Strategie könnte der Herbst noch tödlicher werden als der Sommer. Die rapide Verbreitung des Virus »gefährdet das ganze Land«, wie der Immunologe und Regierungsberater Anthony Fauci am 30. Juni in einem Senatsausschuss sagte. Er warnte vor bis zu 100 000 Neuinfektionen pro Tag, wenn sich nichts ändere. Einem Bericht der Washington Post zufolge hält die Regierung Trump Fauci seit mehr als einem Monat aus dem Weißen Haus fern und verhinderte mehrere geplante Fernsehauftritte des Immunologen.

Aber was soll sich ändern, wenn der Präsident der Vereinigten Staaten einer koordinierten Politik beharrlich im Weg steht? Am Anfang der Pandemie schien sich Trump noch in der Rolle ­eines »Kriegspräsidenten« zu gefallen – inzwischen hat er kapituliert. Bis in den Mai hinein waren viele US-Amerikaner noch zu Opfern bereit; man blieb zu Hause. Die Wirtschaft lag brach, die Infektionszahlen waren leicht rückläufig. Die dadurch gewonnene Zeit hätte man nutzen können. Zwar sind die USA ein föderalistischer Staatenbund, aber das heißt nicht, dass die Bundesregierung völlig hilflos ist. »Es wäre dringend erforderlich, hier im Land medizinische Schutzmasken herzustellen, damit wir nicht mehr auf Importe aus dem Ausland angewiesen sind«, schrieb beispielsweise die konservative Kolumnistin Megan McArdle Anfang dieses Monats in der Washington Post. »Die Bundesregierung sollte sich bereiterklären, alle erforderlichen Investitionen einzuleiten.« Das ist noch immer nicht geschehen. Auch gab es keine landesweite Strategie für den Ankauf und die Verteilung von Atem­geräten oder Schutzkleidung. Die US-Regierung hat die gewonnene Zeit vergeudet. Die Geduld vieler Bürgerinnen und Bürger ist längst erschöpft.

Am 25. Mai lockte der Memorial Day, traditionell ein Tag zum Würstchengrillen mit Freundinnen und Freunden, viele Menschen wieder auf öffentliche Plätze. Nach der Tötung George Floyds am selben Tag kam es im ganzen Land zu Protesten gegen rassistische Polizeigewalt. Medien, die zuvor die Tugend des Daheimbleibens beschworen hatten, berichteten mit verständlichem Enthusiasmus über die Demonstrationen; eine Weile lang verschwand Covid-19 aus den Schlagzeilen. Gleichzeitig lockerten viele Bundesstaaten – darunter die derzeitigen Epizentren Kalifornien, Florida und Arizona – ihre Maßnahmen gegen die Pandemie. Seitdem scheint es unmöglich geworden zu sein, die Bevölkerung der Vereinigten Staaten zum erneuten Zuhausebleiben zu animieren. In Kalifornien beispielsweise, wo in machen Landkreisen die Kneipen wieder schließen mussten, treffen sich die Menschen nun vermehrt privat, oftmals ohne Gesichtsmaske.

Gerade was die Masken anging, waren die Aussagen der Behörden stets widersprüchlich. Zunächst wurde davon abgeraten, sie zu tragen, weil man, wie Fauci bei seiner Senatsanhörung erklärte, einen Maskenmangel in den Krankenhäusern befürchtete. Später empfahl die US-Regierung zwar, in der Öffentlichkeit eine Mund-Nasen-Maske zu tragen, die Bundesstaaten ­reagierten aber unterschiedlich darauf. Einige führten eine Maskenpflicht ein, andere taten dies nicht oder überließen die Entscheidung den Städten und ­Gemeinden. Das Tragen von Masken ist zu einem Politikum geworden. Als Trump am 20. Juni in Tulsa, Oklahoma, nach langer Pause wieder eine öffent­liche Wahlkampfveranstaltung abhielt, trug so gut wie niemand eine Gesichtsmaske – und wer es tat, wurde verspottet, wie Augenzeugen berichteten. Seit Trumps Auftritt ist die Infektionsrate dort höher als zuvor. In konservativen Bundesstaaten, wie beispielsweise Oklahoma oder Idaho, gelten die Masken vielen als Symbol staatlicher Unterdrückung.

Trump behilft sich mit Wunschdenken und tut weiterhin so, als sei alles nicht so schlimm. 99 Prozent der Fälle seien »völlig harmlos«, sagte er am 4. Juli in seiner Rede zum Independence Day. Noch immer behauptet er, das ­Virus werde eines Tages verschwinden. Die ersten Warnungen hatten Trump bereits im Januar erreicht, doch er tat sie als Alarmismus ab. Vergangene Woche teilten die USA offiziell mit, zum 6. Juli 2021 aus der Weltgesundheits­organisation WHO auszutreten. Die Covid-19-Pandemie könnte zu einer der größten humanitären Katastrophen in der Geschichte der USA werden.