In Bolivien soll die umstrittene Übergangsregierung mitten in der Pandemie eine Präsidentschaftswahl organisieren

Wahl oder Streik

Am 6. September soll in Bolivien die Präsidentschaftswahl stattfinden. Der Gewerkschaftsdachverband COB hat Streiks für den Fall einer erneuten Verschiebung angekündigt. Umfragen sehen die konservative Interimspräsidentin Jeanine Áñez hinter Luis Arce, dem Kandidaten der Partei des im November zurückgetretenen Präsidenten Evo Morales.

Am 6. September soll in Bolivien die Präsidentschaftswahl stattfinden. Der Gewerkschaftsdachverband COB hat Streiks für den Fall einer erneuten Verschiebung angekündigt. Umfragen sehen die konservative Interimspräsidentin Jeanine Áñez hinter Luis Arce, dem Kandidaten der Partei des im November zurückgetretenen Präsidenten Evo Morales.
Von Knut HenkelBoliviens Interimspräsidentin Jeanine Áñez hat sich mit Sars-CoV-2 infiziert, wie auch mehrere Minister und rund 60 000 weitere Bolivianer. Die Covid-19-Pandemie hat zu chaotischen Zuständen auf dem einzigen Friedhof von El Alto geführt, der Boomtown auf der Hochebene über La Paz. Weil nicht alle Leichen beerdigt werden können, sollen 90 Familien in der Stadt mit 1,1 Millionen Einwohnern die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen in der Wohnung lagern. Nachdem über Monate Santa Cruz, die größte Stadt des Landes, als Infektionsherd Schlagzeilen machte, steigen die Infektionszahlen nun in La Paz und Cochabamba stetig.

Währenddessen hat der Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl am 6. September begonnen. Der Gewerkschaftsdachverband COB teilte am Mittwoch voriger Woche mit, eine weitere Verschiebung der Wahl sei nicht akzep­tabel. Sein Generalsekretär Juan Carlos Huarachi kündigte an, andernfalls werde es Streiks geben. Die Gewerkschaften stehen der Partei Bewegung zum Sozialismus (MAS) nahe und fühlen sich von der Interimsregierung ­betrogen und provoziert. Anfang Juli hat Boliviens Staatsanwaltschaft gegen den ehemaligen linken Präsidenten und MAS-Vorsitzenden Evo Morales Anklage wegen Terrorismus erhoben – ein politisch motiviertes Verfahren, das zur Politik der erzkonservativen Interimsregierung passt.

Diese ist im November 2019 mit dem Mandat angetreten, binnen drei Monaten eine Präsidentschaftswahl abzuhalten und bis dahin das Land zu verwalten. Dieses Mandat hat sie systematisch verletzt und Entscheidungen von großer Tragweite getroffen, von der Ausweisung von mehr als 700 kubanischen Ärzten bis zur Freigabe von gentechnisch verändertem Saatgut. Áñez, die am 6. September kandidieren will, hat die Innen-, Außen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik deutlich verändert. Gestützt wird sie vom Militär sowie ­einem einflussreichen Kreis konservativer Politiker und Großgrundbesitzer aus Santa Cruz.

»Bolivien befindet sich in einer schweren politischen Krise. Die Gesellschaft ist stark polarisiert und die Morde im Kontext der Auseinandersetzungen im Oktober und November vorigen Jahres sind bis heute nicht aufgeklärt«, sagt Marco Gandarillas. Er ist Mitarbeiter des Bank Information Center, einer in Washington, D. C., ansässigen Nichtregierungsorganisation, die sich für Transparenz und die Stärkung der Zivilgesellschaft einsetzt, und ein bekannter bolivianischer Menschenrechtler. Mehr als 30 Menschen starben in Bolivien im Zuge der Proteste gegen die des Wahlbetrugs bei der Präsidentschaftswahl im Oktober verdächtige Regierung unter Morales und nach dessen Rücktritt Mitte November. Soldaten oder Polizisten haben etliche bei der Unterdrückung von Protesten des MAS erschossen, aber auch mehrere Personen, die friedlich gegen den vermeint­lichen Wahlbetrug der Regierung Morales demonstrierten, wurden Opfer von Heckenschützen. Noch immer ist unklar, ob es einen großangelegten Wahlbetrug gegeben hat. Jüngste Studien von Wahlanalysten aus den USA deuten nicht darauf hin. Diese beruhen allerdings nur auf Datenauswertungen – nicht auf Zeugenaussagen und der Auswertung manipulierter Wahllisten, die in mehreren Städten gefunden wurden, etwa in La Paz und Potosí. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hatte den Wahlbetrug am 10. November bestätigt.

Der Streit über die Wahl im vorigen Jahr und die Politik der Interimsregierung haben die Spaltung der Bevölkerung vertieft. »Die Bilanz und das Auftreten der Interimsregierung sind extrem mies. Sie hat es versäumt, einen Dialog mit der Opposition zu führen, das trägt zur Polarisierung bei«, meint Gandarillas. Das bestätigt auch Rafael Puente, der in Evo Morales’ erstem Kabinett 2006 stellvertretender Innenminister war und später zu einem ­Kritiker der MAS-Regierung wurde. Eine Interimspräsidentin, die bei einer Wahl, die sie laut Verfassung organisieren soll, selbst kandidiert, begebe sich in einen Interessenkonflikt, kritisiert Puente im Gespräch mit der Jungle World.
Die Regierung hat relativ schnell reagiert, als am 12. März die erste Infektion mit Sars-CoV-2 registriert wurde. Wenig später wurden Schulschließungen angeordnet, am 25. März wurde ein lockdown inklusive Ausgangssperre verhängt. Das sei eine überaus rigide Maßnahme in einem Land, in dem mehr als 70 Prozent der Bevölkerung nicht formal angestellt sind, sondern von der Hand in den Mund leben und im informellen Sektor als Kleinhändler, Tagelöhnerinnen oder Hausangestellte ­arbeiten, so Puente. Deshalb wurde die Quarantäne auch nicht überall eingehalten.

Marco Gandarillas kritisiert zudem, die Regierung habe es versäumt, das Gesundheitssystem auf die Pandemie vorzubereiten: »Ein Beispiel ist Trinidad, eine Stadt mit 300 000 Einwohnern, wo es nur einen Intensiv­mediziner gibt – einen! Das zeigt, dass die Katastrophe absehbar war, die sich immer mehr abzeichnet. Es ist, als ob man von einem Beinamputierten verlangte, einen Marathon zu absolvieren.«

Im August wird der Höhepunkt der Infektionszahlen erwartet, die internationalen Organisationen ziehen die letzten Mitarbeiter ab. Bereits jetzt ist die Situation in den Krankenhäusern chaotisch. Berichten zufolge trauen sich die Menschen kaum in diese, weil sie Angst haben, sich dort anzustecken, wo ihnen eigentlich geholfen werden soll.

Das sind schlechte Voraussetzungen für die Präsidentschaftswahl. Aber vor allem die Opposition um den MAS und die Gewerkschaften will nicht länger warten. Sie will die Interims­regierung endlich loswerden. Dafür ­stehen die Chancen nicht schlecht, denn Áñez hat wenig politischen Rückhalt. »Sie ist weitgehend isoliert, hat kein parlamentarisches und parteipolitisches Fundament außerhalb der erzkonservativen Kreise in Santa Cruz«, meint Gandarillas. Erste Umfragen sehen den MAS-Kandidaten Luis Arce in Führung. Ihm folgt der gemäßigte Carlos Mesa, der Kandidat des Bündnisses ­Comunidad Ciudadana (Bürgergemeinschaft), der bereits von 2003 bis 2006 Präsident war und auch im Oktober 2019 antrat. Erst dahinter rangiert Áñez. ­Deren Regierung musste in den vergangenen drei Monaten gleich zweimal den Gesundheitsminister aus­tauschen. »Einer davon musste wegen Korruption im Zusammenhang mit dem Kauf von medizinischem Gerät und Schutzmaterialien zurücktreten«, so Gandarillas. Das habe dazu beigetragen, dass viele Bolivianer das Vertrauen in die Regierung verloren hätten, gegen die Quarantäne verstießen und sich von der Regierung wenig bis gar nicht vertreten fühlten.

Gandarillas bezweifelt, dass die Wahl angesichts steigender Infektionszahlen sowie des Infektionsrisikos bei Kundgebungen und Stimmabgabe stattfinden kann. Zudem habe der Großteil der Menschen genug damit zu tun, zu überleben, und kaum Zeit, sich mit Kandidaten, Programmen und der politischen Zukunft des Landes zu beschäftigten. Obendrein ist das Vertrauen in die staatlichen Institutionen erschüttert. Das sind schlechte Bedingungen für eine entscheidende Wahl in einer polarisierten Gesellschaft.