Die russische Regierung bestreitet weiterhin, dass der Oppositionspolitiker Alexej Nawalnyj vergiftet wurde

Der gefährliche Patient

Am Montag wurde der russische Oppositionspolitiker Aleksej Nawalnyj in Berlin aus dem künstlichen Koma geholt. Der Kreml bestreitet weiterhin, dass er vergiftet wurde.

Bei all den kursierenden Falschmeldungen scheint manchmal niemand mehr imstande zu sein, glaubwürdig darzulegen, ob es sich bei einer Behauptung um ein reines Phantasiegebilde handelt oder sie vielleicht doch einen wahren Kern hat. Mit System Verwirrung zu stiften, gehört zu den Grundfertigkeiten vieler Politikerinnen und Politiker. Besonders beschlagen ist darin der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko. Bei einem Treffen mit dem russischen Ministerpräsidenten Michail Mischustin in Minsk Mitte voriger Woche bot er dem großen Bruder im Osten wertvolle Informationen an. Der russische Oppositionspolitiker Aleksej Nawalnyj sei gar nicht vergiftet worden. Der belarussische Militärgeheimdienst habe ein Telefonat abgefangen, das dies nahelege. »Wie wir es mitbekommen haben, sprach Warschau mit Berlin«, sagte Lukaschenko. Nawalnyj wird seit dem 22. August wegen schwerwiegender Vergiftungserscheinungen in der Berliner Charité behandelt. Am Montagnachmittag teilte das Krankenhaus mit, der Politiker sei aus dem künstlichen Koma geholt worden und reagiere auf Ansprache.

Wäre die russische Regierung an einer Aufklärung des Falls interessiert, könnte sie alle nötigen Untersuchungen vornehmen lassen.

Am Mittwoch voriger Woche sprach die deutsche Kanzlerin Angela Merkel von einem »versuchten Giftmord« an Nawalnyj. Sie bezog sich auf den Befund eines Speziallabors der Bundeswehr, dem zufolge Nawalnyj einem chemischen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe ausgesetzt war. In ­diversen Proben wurden geringe Spuren des Gifts gefunden. Genauere Angaben darüber, um welche Substanz es sich handelt, machte das Labor nicht. In Russland reagierte man auf den Befund mit völligem Unverständnis. Der Pressesprecher der Regierung, Dmitrij Peskow, sagte, Untersuchungen in Russland hätten keine Hinweise auf giftige Substanzen geliefert. Eine qualifizierte Reaktion auf die Behauptungen aus Berlin sei derzeit nicht möglich, zumal offizielle Anfragen an die Bundesregierung bislang unbeantwortet geblieben seien. Prinzipiell sei Russland jedoch bereit zu einem gemeinsamen Vorgehen in der Angelegenheit.
Marija Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, ging in ihren Äußerungen so weit, Deutschland vorzuwerfen, die Untersuchungen in dem Fall gezielt in die Länge zu ziehen. Die Bundesregierung habe nicht auf ein Rechtshilfeersuchen der russischen Staatsanwaltschaft vom 27. August reagiert. Der deutsche Außenminister Heiko Maas entgegnete, man werde dem russischen Rechtshilfeersuchen zustimmen, da keine Gründe für eine Absage vorlägen. Er erwarte von der russischen Seite einen Beitrag zu Aufklärung.
Die deutsch-russischen Beziehungen verschlechtern sich, erstmals wird sogar die Fertigstellung der Ostseepipeline Nord Stream 2 ernsthaft in Frage gestellt. Auch die Nato fordert eine unparteiische internationale Untersuchung, denn Gifte der Nowitschok-Gruppe zählen zu den international geächteten che­mischen Kampf­stoffen. Die Vergiftung des ehemaligen russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seiner Tochter im englischen Salisbury 2018 mit einem Nowitschok-Gift hatte in­ternational für Empörung gesorgt; beide überlebten nur knapp. Die Nato ­beschränkte sich damals indes darauf, russische Diplomaten ihre Nato-­Akkreditierung zu entziehen.
Dass jemals eindeutig geklärt wird, wer Nawalnyjs Zustand zu verantworten hat, ist unwahrscheinlich. In anderen mysteriösen Fällen, bei denen ­prominente Kritikerinnen und Kritiker der russischen Regierung mit giftigen Substanzen in Berührung kamen, gelang es bestenfalls, die Begleitum­stände zu rekonstruieren. Der russische Innenminister Wladimir Kolokolzew sieht im Fall Nawalnyjs jedenfalls keine Hinweise auf kriminelle Machenschaften.
Am frühen Morgen des 20. August war Nawalnyj im sibirischen Tomsk in ein Flugzeug nach Moskau gestiegen. Eine knappe Stunde vor dem Abflug hatte er auf dem Flughafen eine Tasse Tee getrunken. Kira Jarmysch, die Pressesprecherin Nawalnyjs, sagte, der ­Politiker habe an dem Morgen keine weiteren Nahrungsmittel zu sich genommen, auch nicht an Bord. Kurz nach dem Abflug suchte Nawalnyj die Toi­lette auf. Auf einem von einem Flugzeugpassagier aufgezeichneten Video sind Schreie zu hören. Wann genau der Politiker das Bewusstsein verloren hat, kann niemand genau sagen. Neben Übelkeit bezeugten Anwesende akute Atemprobleme.
An der Entwicklung von Nowitschok beteiligte russische Wissenschaftler ­bezweifeln, dass ausgerechnet dieser Giftstoff zur Anwendung gekommen sei, da er in den meisten Fällen tödlich wirke. Zudem hätten bedingt durch die Lähmung des Nervensystems andere Symptome vorliegen müssen, beispielsweise Muskelzucken. Allerdings könnte auch eine andere toxische Substanz beigemischt worden sein. Aber das sind nichts als Vermutungen.
Nach einer Notlandung in Omsk wurde Nawalnyj in ein lokales Krankenhaus eingeliefert. Dort schlossen Ärzte eine Vergiftung aus, sprachen von Stoffwechselstörungen, Alkohol und Koffein im Blut. Zunächst bescheinigten sie dem Patienten Transportunfähigkeit, nach zwei Tagen konnte er dann doch nach Berlin ausgeflogen werden. Wäre die russische Regierung an einer Aufklärung des Falles interessiert, könnte sie an den in Omsk entnom­menen Proben alle nötigen Untersuchungen vornehmen lassen, ohne auf detaillierte Befunde aus Deutschland angewiesen zu sein. Peskow sagte in einer Stellungnahme, ihm sei nicht ersichtlich, wer von einer Vergiftung Nawalnyjs profitieren könnte. Die russische Führung jedenfalls habe davon keine Vorteile.
Solange das Risiko bei außenpolitischen Verstimmungen kalkulierbar bleibt, kann die russische Führung es sich leisten, die innere Herrschafts­sicherung zu priorisieren. Nawalnyj ist ein Störenfried mit hohem Bekanntheitsgrad. Als Politiker hat er zwar keine Chance, die Regierung herauszu­fordern, weil ihm außer seinen Korruptionsenthüllungen keinerlei Instrumente für einen politischen Kampf zur Verfügung stehen. Aber mit seiner Wahltaktik, das die Kandidaten der Partei Einiges Russland, der Hauspartei des Kremls, in arge Bedrängnis bringt, dürfte er die letzte Toleranzgrenze überschritten haben. Bei den Moskauer Stadtparlamentswahlen vor einem Jahr war er damit recht erfolgreich. Damals hatte er für jeden Wahlkreis einen Kandidaten benannt, den alle Oppositionswähler wählen sollten. Mitte September stehen Wahlen in vielen Regionen an. Auch in Sibirien, wo ihn seine letzte Reise hingeführt hat.