Die Kämpfe um Bergkarabach

Bombenregen im Kaukasus

Der seit fast 30 Jahren schwelende Konflikt um die umstrittene Region Bergkarabach ist erneut eskaliert.

Der Konflikt um Bergkarabach wurde bis vor kurzem häufig als »eingefroren« bezeichnet. Seit vorvergangenem Sonntag wäre er demnach aufgetaut: Es gab unter anderem Drohnen- und Luftangriffe auf zivile Ziele, Soldaten buddelten Schützengräben, Lazarette und Leichenhallen füllten sich stetig. Aserbaidschans Diktator Ilham Alijew versucht, seinen Bürgern das zu liefern, was er in Reden, Interviews und öffentlichen Stellungnahmen zuvor jahrelang versprochen hatte: die von Armeniern bewohnte und als unabhängiger Staat ausgerufene Enklave Bergkarabach wieder in den aserbaidschanischen Staat zurückzuholen. »Das ist das Ende. Wir haben ihnen gezeigt, wer wir sind. Wir jagen sie wie Hunde«, sagte Alijew am Sonntag im aserbaidschanischen Staatsfernsehen über die Armenier und verlangte vom Nachbarland, sich bei seinem Land zu entschuldigen.

Der UN-Sicherheitsrat verlangte wiederholt den Abzug der armenischen Truppen aus Bergkarabach.

Nach Angaben der armenischen Regierung unterstützt die Türkei Alijew militärisch. Am Mittwoch voriger Woche hatte die Türkei Aserbaidschan zugesichert, das Land zu unterstützen, sollte es um Hilfe ersuchen. Der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge entsandte die Türkei 850 syrische Söldner nach Bergkarabach. Recherchen des Spiegel legen nahe, dass deren Zahl sogar bei 1 000 liegt. Die britische Tageszeitung The Guardian berichtete, syrische Söldner seien von Männern, die sich als Vertreter türkischer Sicherheitsfirmen ausgaben, für einen Einsatz in dem Konflikt angeworben worden. Nach Angaben des französischen Präsidenten Emmanuel Macron sind in Bergkarabach syrische Jihadisten im Einsatz, die über die Türkei dorthin gekommen sind, dem russischen Außenministerium zufolge auch Kämpfer aus Libyen.

In der Endphase der Sowjetunion und nach ihrem Zerfall führten Armenien und Aserbaidschan von 1988 bis 1994 einen Krieg um die Region. Die armenische Seite gewann und besetzte umliegende Gebiete als Pufferzone. Seitdem herrschte offiziell ein Waffenstillstand. Doch gab es immer wieder Schusswechsel und Gefechte zwischen den beiden Armeen, zuletzt im Juli dieses Jahres. Die Dimension der Auseinandersetzungen jetzt ist gänzlich anders: Bomben regnen auf Bergkarabachs Hauptstadt Stepanakert sowie auf Städte und Dörfer in Armenien. Das Land reagiert mit Gegenschlägen, etwa auf Aserbaidschans zweitgrößte Stadt Gandscha am Sonntag. Seit dem lange zurückliegenden Waffenstillstand hatten beide Länder Zeit, ihre Armeen mit moderner Technik hochzurüsten.

Aserbaidschan ist etwa zweieinhalb mal so groß wie Armenien und Berg­karabach zusammengenommen und hat zehn Millionen Einwohner; Arme­nien hat drei Millionen, Bergkarabach 150 000. Die türkische Unterstützung für den »Bruderstaat« Aserbaidschan lässt sich auf sprachliche und kultu­relle Affinitäten zurückführen; Aserbaidschanisch ist eng mit der türkischen Sprache verwandt. Zudem kämpften osmanische Truppen bereits 1920 gegen den ersten unabhängigen armenischen Staat. Nicht zuletzt deshalb werden in Armenien die Türkei und Aserbaidschan als zwei zusammengehörige Feinde betrachtet. Armeniens seit 2018 amtierender Ministerpräsident Nikol Paschinjan sagte in einem Interview mit der französischen Tageszeitung Le Figaro, die Türkei schlage »wieder einmal einen genozidalen Weg« ein, und beschuldigte die türkische Regierung, Offensiven gegen Bergkarabach anzuführen. »Die Türkei will ihre Rolle und ihren Einfluss im Südkaukasus stärken. Sie verfolgt den Traum, ein Imperium aufzubauen, dass das Sultanat imitiert.«

Armenien begreift sich als Staat der Überlebenden des Genozids im Osma­nischen Reich; die Erinnerung an diesen nimmt eine zentrale Rolle im nationalen Selbstverständnis der Bevölkerung und der Diasporaarmenier ein. Gebieten wie Bergkarabach, die anhand von Klöstern und Friedhöfen eine jahrhundertelange armenische Besiedlung nachweisen können, wird daher eine große Bedeutung zugemessen. Wegen der demographischen und territorialen Unterlegenheit setzen viele Armenier Zugeständnisse bei der Abtretung besetzter Gebiete in Beziehung zum Ge­nozid und dem Verlust der von Armeniern bewohnten Gebiete in Anatolien.

Auch das schiitisch geprägte Aser­baidschan erhebt einen historischen Anspruch auf Bergkarabach. Alijew behauptete wiederholt, selbst die Republik Armenien sei eine »Kolonie«, die auf ursprünglich aserbaidschanischem Boden errichtet worden sei. Wichtiger für die emotionale Aufladung des Konflikts dürften allerdings die knapp 600 000 Aserbaidschaner sein, die aus Bergkarabach und den umliegenden von Armenien besetzten Gebieten vertrieben wurden. Das Recht auf Rückkehr der Flüchtlinge ist in Aserbaidschan gesellschaftlicher Konsens.

In Bergkarabach konfligieren somit zwei Prinzipien des internationalen Rechts. Armenien und die Republik Ar­zach, wie Bergkarabach sich nennt, pochen auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und verweisen auf den 1991 noch zu Sowjetzeiten abgehaltenen Volksentscheid in Bergkarabach, bei dem eine Loslösung von Aserbaidschan eine Mehrheit fand. Aserbaidschan hingegen besteht auf der territorialen Integrität des Landes – eine Sicht, der sich die meisten Experten für internationales Recht und Staaten anschließen. Der UN-Sicherheitsrat verlangte wiederholt den Abzug der armenischen Truppen.

Dass der Krieg nun wieder eskaliert, offenbart auch das Scheitern der sogenannten Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). 1992 eingerichtet und von den USA, Russland und Frankreich angeführt, versuchte das Bündnis, den Konflikt durch Verhandlungen zu lösen. Streitpunkte waren vor allem der Status Bergkarabachs nach internationalem Recht, die Rückgabe besetzter Gebiete, die Einhaltung der Waffenruhe und die Rückkehr aserbaidscha­nischer Flüchtlinge. Ein Problem war, dass die Separatistenregierung der ­Republik Arzach und deren Einwohner nicht an den Verhandlungen beteiligt waren. Armenien fordert dies vehement, Aserbaidschan stellt sich dagegen, weil dies den Separatisten politische Legitimität verleihen würde.

Wie auch immer der neue Krieg verlaufen wird: Die Armenier in Bergkarabach hätten als besiegte Rebellen in Aserbaidschan viel zu verlieren. Das Regime Alijews versprach den Bewohnern der Region in der Vergangenheit zwar volle Bürger- und Minderheitenrechte. Doch mit Blick auf die verheerende Menschenrechtslage in Aser­baidschan dürften das leere Worte bleiben. Entscheidend dürfte das Verhalten Russlands sein, dessen Militär die Grenze Armeniens zum Iran und der Türkei bewacht und eine Militärbasis sowie einen eigenen Militärflughafen im Land unterhält. Russland ist zwar Armeniens wichtigster Verbündeter, aber zugleich einer der wichtigsten Ausrüster der aserbaidschanischen Armee.