Fahnen und Getrommel
»Wir haben nichts mehr zu verlieren, also ziehen wir in den Krieg für unser Leben und das Leben unserer Familien.« Das sagte der Besitzer eines Textilladens im Süden von Tel Aviv vergangene Woche. Er und viele weitere Ladenbesitzerinnen und -besitzer ließen ihre Ware auf der Straße in Flammen aufgehen, um auf ihre miserable finanzielle Situation in der Coronakrise aufmerksam zu machen.
In Israel herrschen allenthalben Frustration, Unmut und Existenzängste. Viele Israelis haben kein Vertrauen mehr in die Regierung. Das Land befindet sich bereits seit mehr als einem Monat in einem zweiten lockdown. Die Regierung lockerte diesen am Sonntag. Seither darf man sich wieder weiter als einen Kilometer von seiner Wohnung entfernen; das war vorher nur in Ausnahmefällen erlaubt.
Seit Monaten sorgen sich ständig ändernde Regelungen für Ungewissheit und Orientierungslosigkeit in der Bevölkerung. Viele Israelis verloren bereits während des ersten lockdown im Frühling ihre Anstellung oder mussten ihre Geschäfte schließen; im besten Fall beziehen diese Israelis Arbeitslosengeld, viele haben sich jedoch verschuldet. Kunstschaffende sowie Freiberuflerinnen und -berufler haben keinen Anspruch auf staatliche Arbeitslosenunterstützung und sind auf ihr Erspartes oder Kredite angewiesen. Seit März sind alle Kunst- und Kulturbetriebe geschlossen. Es gibt keine Theatervorstellungen, keine Filmvorführungen, keine Tanzauftritte und keine Ausstellungen. Anfangs verdienten viele Kunstschaffende noch ein wenig Geld dadurch, dass sie online Tanz- oder Musikunterricht gaben. Inzwischen merkt man, dass die Motivation hierzu abgenommen hat.
»Wir kämpfen für ein besseres Leben und wir werden nicht aufhören, bis Bibi geht.« Eine Demonstrantin in Tel Aviv
Mehr noch als während des ersten lockdown kann man nun beobachten, wie Sorge sich in Wut verwandelt und aus Schwäche Aggression wird. »Bibi, geh’ nach Hause«, hört man Protestierende täglich rufen. Gemeint ist der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. Pinke und schwarze Fahnen zieren die Städte und sind bei den meisten Demonstrationen zu sehen. Anhängerinnen und Anhänger der Gruppe Black Flag wollen mit schwarzen Fahnen auf den Zustand der israelischen Demokratie aufmerksam machen, die ihrer Ansicht nach in Gefahr ist. Die pinken Fahnen verbreiteten sich auf den Demonstrationen, nachdem Mitglieder der Gruppe Pink Front, zu der vor allem Kunstschaffende gehören, diese dort gezeigt hatten. Plakate mit der Aufschrift »crime minister« hängen neben bunten Blumenkästen von Balkonen. Man hört Fahrradhupen und sieht Graffiti an Wänden und Bürgersteigen. Diese sagen entweder »geh’«, was an Netanyahu gerichtet ist, oder »komm’« in der weiblichen Form – eine Aufforderung an Frauen, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.
Kunstschaffende sowie Freiberuflerinnen und -berufler organisierten im Frühling eine Demonstration gegen die Regierung. Bald wurden daraus wöchentlich stattfindende Großdemonstrationen. Diese fanden vor Netanyahus Amtssitz in der Balfour Street in Jerusalem, in Tel Aviv auf dem zentral gelegenen Habima Square sowie an vielen anderen Orten im ganzen Land statt. Bald beteiligten sich auch verschiedene Gruppen aus anderen gesellschaftlichen Milieus an der Organisation der Proteste.
In den vergangenen Amtsjahren Netanyahus hat sich einiges an Unmut angesammelt. Auch nachdem der erste lockdown in Israel nach knapp zwei Monaten beendet worden war, fanden die wöchentlichen Demonstrationen weiter statt, wobei sie immer mehr an Festivals erinnerten: Es wurde getanzt und laute Musik gespielt, es gab Jongleure und verkleidete Zirkusartistinnen. Als die Infektionszahlen erneut stiegen und die Regierung den zweiten lockdown anordnete, wurden die Proteste wieder wütender.
Am 30. September ließ die israelische Regierung die Knesset beschließen, dass Demonstrationen ebenfalls unter die allgemeine Ausgangssperre fallen. Bis dahin zählte die Teilnahme an Protesten als Ausnahme, für die man sich mehr als 1 000 Meter von seiner Wohnung entfernen durfte. Ab dem 1. Oktober war das Demonstrieren nur noch im Radius eines Kilometers vom Wohnsitz entfernt erlaubt. Außerdem durften nicht mehr als 20 Personen an Protesten teilnehmen. Die Teilnehmenden mussten zwei Meter Abstand zueinander halten und Mund-Nasen-Bedeckungen tragen.
Einige Knesset-Abgeordnete stimmten dagegen, darunter Nitzan Horowitz, der Vorsitzende der linken Partei Meretz. Er sagte: »Eine Demonstration von 20 Menschen ist keine Demonstration, es ist eine Versammlung des Hauskomitees.« Das Coronakabinett der israelischen Regierung hatte über eine Woche über die Einschränkungen diskutiert. Aufgrund hoher Infektionszahlen sahen die Ministerien sich genötigt, erneute schärfere Restriktionen anzuordnen. Am 30. September wurden mehr als 9 000 Neuinfektionen registriert, wie das israelische Gesundheitsministerium am 1. Oktober mitteilte.
Viele Protestierende warfen der Regierung vor, den lockdown zu nutzen, um die Proteste zu unterbinden. Angesichts hoher Infektionszahlen und zahlreicher überlasteter Krankenhäuser erschien diese Argumentation jedoch fragwürdig. Netanyahu verteidigte sich so: »Es gab immer Proteste gegen mich. Sie können innerhalb von 1 000 Metern oder in der Nähe ihrer Wohnungen weiter demonstrieren. Das Problem sind die Verbreitung der Krankheit und die Verbreitung der Anarchie.«
Am Dienstag voriger Woche hob die Regierung das Verbot auf, das Demonstrationen auf 20 Teilnehmer und einen Radius von maximal 1 000 Meter vom Wohnsitz der Teilnehmenden beschränkte. Seither fanden bereits vier Großdemonstrationen statt. Am Samstag versammelten sich Tausende Demonstrierende auf den Straßen Israels. Vor Netanyahus Amtssitz forderten sie lautstark dessen Rücktritt. »Es ist nicht vorbei, solange du nicht gehst«, riefen sie. Je später es wurde, umso mehr kam es zu Übergriffen. Was friedlich mit Gesang und Getrommel begann, endete mit zahlreichen Festnahmen.
Vor der Demonstration hatten Anhängerinnen und Anhänger Netanyahus gedroht, gewaltsam gegen die Protestierenden vorzugehen. Ein großes Aufgebot der Polizei versuchte, die Netanyahu-Anhänger von denen zu trennen, die gegen ihn demonstrierten. In vielen Städten gab es Verletzte unter den Demonstrierenden. Anhänger Netanyahus gingen mit Pfefferspray gegen Demonstrierende vor und griffen diese verbal und physisch an. Am Donnerstag voriger Woche sprühten in Holon rechtsextreme Anhänger von »La Familia«, einer Organisation von Fußballfans, Tränengas auf Demonstrierende und griffen Tomer Appelbaum an, einen Fotografen der linken Tageszeitung Haaretz. Bereits mehrmals fuhren Autos bei Protesten in die Menge der Demonstrierenden, um diese einzuschüchtern oder gar körperlich zu verletzen. »Die Proteste sind nicht mehr, was sie mal waren. Es geht nur noch um Gewalt. Es ist purer Hass«, sagte ein Protestierender nach einer Demonstration; für ihn sei es die letzte gewesen.
Auch die rigiden Einschränkungen hatte die Bevölkerung nicht davon abgehalten, auf die Straße zu gehen. Black Flag organisierte nach eigenen Angaben 1 000 Nachbarschaftsdemonstrationen im ganzen Land. In Facebook-Gruppen konnte man auf Städtekarten sehen, wo die nächste Demonstration stattfindet. Die Teilnehmenden hielten zwei Meter Abstand und schwenkten schwarze und pinke Fahnen in der Dämmerung. Aus Autos, die an den Demonstrierenden vorbeifuhren, wurden Slogans gegen die Regierung gerufen. Es wurde viel gehupt, Mitfahrende hielten Fahnen aus den Autos.
Nicht alle Nachbarschaftsdemonstrationen blieben friedlich. Oft kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei und zu Festnahmen. Zahlreiche Strafen wurden verhängt, weil Demonstrierende sich nicht an die Auflagen hielten. Kurz nachdem die Knesset beschlossen hatte, dass Proteste nur noch in kleiner Form stattfinden dürfen, zog eine Spontandemonstration durch Tel Aviv. Da diese nicht angemeldet war und gegen das eben erst beschlossene Gesetz verstieß, kam es zu zahlreichen Auseinandersetzungen mit der Polizei, die teilweise gewaltsam verliefen. Die Stimmung ist so aufgeheizt, dass viele Israelis befürchten, ein Bürgerkrieg könnte ausbrechen.
Einer von den Tageszeitungen Jerusalem Post und Maariv in Auftrag gegebenen Meinungsumfrage zufolge wünschen sich 54 Prozent der wahlberechtigten Israelis, dass Netanyahu zurücktritt, 36 Prozent sind dagegen. Auch 28 Prozent derer, die bei der vergangenen Parlamentswahl Netanyahus Partei Likud gewählt hatten, möchten, dass er sein Amt aufgibt.
Netanyahu war bereits von 1996 bis 1999 Ministerpräsident, seit 2009 ist er wieder im Amt. Es gab immer wieder Proteste gegen ihn, doch niemals waren es so viele und so laute wie in der Coronakrise. »Wir kämpfen für ein besseres Leben und wir werden nicht aufhören, bis Bibi geht«, sagte eine Demonstrantin am Samstagabend in Tel Aviv.