In Mexiko gedenkt man am Tag der Toten der Opfer von Covid-19 und Femiziden

Studentenblumen für die Toten

Am Tag der Toten gedenkt man in Mexiko dieses Jahr auch der Opfer von Covid-19 und Femiziden sowie der Verschwundenen des sogenannten Kriegs gegen die Drogen.

Flackerndes Kerzenlicht beleuchtet orange-gelbe Blütenblätter und wehende bunte Papiergirlanden. Sie, aber auch Gräber und eigens errichtete Altäre sind mit sogenannten calaveras ­geschmückt – als Trompeter, Tänzerin, Säufer oder Köchin kostümierte menschliche Skelette aus Pappmaché. Am Diá de los Muertos (Tag der Toten) gedenkt man in Mexiko alljährlich vom Abend des 31. Oktober bis zum 2. November, also der Zeit vom Vorabend von Allerheiligen bis Allerseelen, verstorbener Familienangehöriger, Freundinnen, Freunde und bekannter Persönlichkeiten. Üblicherweise stellt man Bilder und Fotografien der Verstorbenen, Blumen, ein Glas Wasser, ein weiteres (meist alkoholisches) Getränk und die Leibspeise der Verstorbenen, manchmal auch Zigaretten und anderen Genussmitteln sowie Leckereien wie den pan de muerto, ein saisonales zuckriges Gebäck, auf Altäre. Nach altmexikanischem Brauch erwartet man an diesen Tagen die Rückkehr der Toten aus dem Jenseits. Dieses Jahr werden auch viele Opfer der Covid-19-Pandemie und der Gewalttaten geehrt, die das Land seit mehr als zehn Jahren erschüttern.

Die Pandemie
Die ersten drei Covid-19-Fälle wurden in Mexiko am 28. Februar festgestellt. Zunächst reagierte Präsident Andrés Manuel López Obrador unbesorgt, schüttelte wie gewohnt im ganzen Land die Hände seiner Anhängerinnen und Anhänger und spielte die Pandemie herunter. Währenddessen begann der Aufstieg des Epidemiologen und Leiters des Sekretariats für Gesundheitsförderung und Prävention im Gesundheitsministerium, Hugo López-Gatell, zu einer Art Popstar. Inzwischen erläutert er alle zwei Wochen auf Pressekonferenzen des Präsidenten der Bevölkerung die Lage und die Maßnahmen.

Nachdem anfänglich die Zahl der Infektionen schnell anstieg, sinkt nach offiziellen Angaben seit Ende Juli die Zahl der Neuinfektionen. Auf den Intensivstationen sei die Aufnahmekapazität zur Behandlung schwerer Covid-19-Fälle nahezu vervierfacht worden, doch derzeit seien in keiner Region mehr als die Hälfte der Betten belegt, so López-Gatell vorige Woche auf der Pressekonferenz. Mit Blick auf Europa äußerte er die Sorge vor einem erneuten Anstieg – insbesondere da von Oktober bis April in Mexiko die Grippezeit ist.

»Wir können nicht einschätzen, wie viele Massengräber und geheime Gräber wir noch finden werden.« Roxana Enriquez, Leiterin des Equipo Mexicano de Antropología Forense

Die aktuellen Statistiken sind nicht ermutigend: Die US-amerikanische Johns Hopkins University zählte in Mexiko Ende Oktober mehr als 880 000 bestätigte Infektionen seit Beginn der Pandemie und fast 90 000 Tote. Dabei ließ die Regierung nie großflächig auf Covid-19 zu testen – das galt als zu teuer. Mitte August hatte Mexiko mit 11,9 Prozent die dritthöchste Sterberate bei Covid-19-Erkrankten weltweit nach Italien (14,5 Prozent) und Großbritannien (14 Prozent).

Die Zahl der Femizide steigt
Traditionell schmücken am Tag der Toten die Blüten der sogenannten Totenblume Cempasúchil (Studentenblume) die Gräber und Altäre, um die Toten willkommen zu heißen und ihnen den Weg zu ihren Liebsten zu weisen. »Die Studentenblumen werden nicht ausreichen, um alle zu geleiten, die sie uns genommen haben«, twitterte in Anspielung darauf die Gruppe Voces Feministas. Der Tweet bezog sich auf die seit Jahren steigende Zahl sogenannter Femizide – also wegen ihrer Geschlechtszugehörigkeit getöteter Frauen. In einem Bericht des Sekretariats des Exekutiv­organs für Nationale Sicherheit in Me­xiko (SESNSP) heißt es, in diesem Jahr seien bereits mehr als 704 Femizide registriert worden – die höchste Zahl seit fünf Jahren.

Noch kurz nach den ersten in Mexiko registrierten Covid-19-Fällen demons­trierten am 8. März, dem Internationalen Frauentag, Zehntausende Frauen im Zentrum von Mexiko-Stadt. Luftaufnahmen der Straßenzüge voller in Lila und Grün gekleideter Frauen wurden in den sozialen Medien geteilt. Die Pan­demie hat seither die Handlungsmöglichkeiten sozialer Bewegungen weltweit eingeschränkt, so auch die der mexikanischen Frauenbewegung. Dennoch kam es nun wieder zu Protesten gegen den fehlenden Aufklärungswillen bei Femiziden. Im September besetzten Feministinnen öffentlichkeitswirksam das Gebäude der Menschenrechtskommission in Mexiko-Stadt. Zu ähn­lichen Aktionen kam es im ganzen Land.

Staatliche Repression ließ nicht lange auf sich warten. Nach Medienberichten kesselten 1 700 Polizistinnen am 28. September, dem globalen Aktionstag für ein Recht auf eine legale und­ ­sichere Abtreibung, eine Gruppe von etwa 300 bis 600 Frauen für mehrere Stunden ein, die Situation eskalierte und wurde schließlich gewalttätig.

Die Verschwundenen
Ein zentraler Bestandteil des Schmucks für die zum Tag der Toten errichteten ­Altäre sind die Porträts der Verstorbenen. Sie sollen zeigen, für wen die Gaben sind und von wem an diesem Tag Besuch erwartet wird. Das birgt für viele in Mexiko ein Problem. Als »gewaltsames Verschwindenlassen« bezeichnet man in Lateinamerika die Praxis von Ordnungskräften, paramilitärischen oder kriminellen Organisationen, Menschen an geheime Orte zu entführen, zu foltern und meist auch dort zu ermorden und zu verscharren. Die Angehörigen von Verschwundenen wissen meist nicht, ob diese bereits tot oder noch am Leben sind.

Seit 2006 der damalige Präsident Felipe Calderón den »Krieg gegen die Drogen« ausrief, sind in Me­xiko Zehntausende Menschen verschwunden. ­Voriges Jahr sprach die Regierung von mehr als 40 000 Verschwundenen. Diesen Sommer wurde die Zahl offiziell auf über 70 000 korrigiert. Und wie es im Zusammenhang mit dem »Krieg gegen die Drogen« eine lange Namens­liste von verschwundenen Personen gibt, so gibt es auch zahlreiche namenlose Leichen. Die NGO Quinto Elemento Labs berichtet von rund 38 000 Leichen, die man zwischen 2006 und 2019 in forensische Labore einlieferte. Mehr als 27 000 davon sollen unidentifiziert in staatlichen Massengräbern bestattet worden sein.

Zugleich entdeckte man immer mehr geheime Massengräber im Land. Diese Funde verdankt man häufig Bemühungen von Selbstorganisationen Opferangehöriger, die versuchen, ihre vermissten Freunde und Verwandten zu finden. 2013 gegründete sich eine Initiative für forensische Anthropologie, den Equipo Mexicano de Antropología Forense (EMAF). Die Initiative arbeitet mit den Angehörigen zusammen und unterstützt die Organisationen der Opferfamilien mit unabhängigen Expertengutachten. Die Leiterin Roxana Enriquez sagt: »Wir können nicht einschätzen, wie viele Massengräber und geheime Gräber wir noch finden werden.« Daher strebt EMAF bereits seit vorigem Jahr an, mit staatlichen Institutionen zusammenzuarbeiten, um neue Strategien zur Erfassung von Massengräbern und geheimen Gräbern zu entwickeln. Um einer Lösung auch nur nahe zu kommen, so Enriquez, bedürfe es dringend eines besseren Überblicks. Nur so sei es möglich zu ermitteln, wie viel Zeit, Geld und Personal für Untersuchungen, Ermittlungen und im besten Fall die Identifikation von Leichen nötig wären.

Bereits seit den siebziger Jahren schließen sich in Mexiko Angehörige von Verschwundenen zusammen und sichern dem Thema öffentliche Aufmerksamkeit. Eureka, eine der daraus entstandenen Gruppen, hat 2012 im Zentrum von Mexiko-Stadt das »Museum des unbeugsamen Gedächtnisses« gegründet. Der international bekannteste Fall betrifft 43 Studenten aus Ayotzinapa, die 2014 »verschwanden« (Vermisste Aufklärung - Jungle World 51/2018). Auch für sie hängen im Hof des alten Kolonialgebäudes, in dem das Museum des unbeugsamen Gedächtnisses untergebracht ist, die farbenfrohen Girlanden mit den Skeletten.