Wegen des Streits über den Haushalt sind in Israel Neuwahlen wahrscheinlich

Auf in die vierte Runde

Inmitten einer Gesundheits- und Wirtschaftskrise gelingt es Israels Parlament nicht, den Haushalt für die beiden kommenden Jahre zu verabschieden. Das dürfte zu Neuwahlen führen.

Während Israel eine schwere Krise durchmacht, kämpft Ministerpräsident Benjamin Netanyahu mit allen erdenklichen politischen Mitteln darum, trotz einer Anklage wegen Korruption und Amtsmissbrauch im Amt zu bleiben. Er hatte gehofft, eine Koalition mit rechten und ultraorthodoxen Parteien bilden zu können, die es ihm ermöglicht hätte, sich per Gesetzgebung Immunität zu verschaffen. Dies ist ihm jedoch weder nach den Wahlen im April und September 2019 noch nach denen im März 2020 gelungen. Vielmehr sah er sich zuletzt zu einer Koalition mit dem zentristischen Bündnis Blau-Weiß gezwungen, das den Justizminister Avi Nissenkorn stellt.

Der Koalitionsvertrag sah vor, dass Netanyahu im Oktober 2021 das Amt des Ministerpräsidenten an den Vorsitzenden von Blau-Weiß, den ehemaligen Generalstabschef Benny Gantz, übergibt. Dazu aber wird es höchstwahrscheinlich nicht kommen, denn zuvor dürften Neuwahlen stattfinden, worauf die Querelen um die Verabschiedung des im Koalitionsvertrag vereinbarten Zwei-Jahres-Budgets hindeuten.

Soweit es möglich war, regierte Netanyahu in den vergangenen Monaten ohne Rücksprache mit dem Koalitionspartner Blau-Weiß.

Dem Bündnis Blau-Weiß gehörten neben Gantz’ Partei Hosen L’Yisrael die liberale Partei Yesh Atid von Yair Lapid, die gemäßigt konservative Partei Telem des ehemaligen Generalstabschefs Moshe Ya’alon sowie Gabi Ashkenazi, ein weiterer ehemaliger Generalstabschef, an. Es formierte sich vor den vor­gezogenen Parlaments­wahlen im Frühjahr 2019, um eine weitere Amtszeit Netanyahus zu verhindern.

Blau-Weiß warnte im Wahlkampf vor Netanyahu als dem »Erdoğan Israels« und gewann die ökonomisch starken Städte des Landes, in denen die Sorge um Demokratie und Rechtsstaat ausgeprägt ist. Der Likud aber gewann die ökonomisch schwachen Entwicklungsstädte, in denen viele Juden orientalischer und nordafrikanischer Herkunft leben; dort ist die Sorge um den jüdischen Charakter des Staats groß. Netanyahu war es gelungen, die Wahlen zum Behauptungskampf gegen eine vermeintliche linke Gefahr zu stili­sieren; er und seine Gefolgsleute stellten Gantz als Araberfreund und als psychisch krank dar.

Zweimal scheiterten die Versuche Netanyahus, eine Regierung zu bilden. Eine Koalition zwischen den rechten und ultraorthodoxen Parteien, die eine Mehrheit hätte, kam wegen der unüberbrückbaren Differenzen zwischen den Ultraorthodoxen und Avigdor Liebermans säkular-nationalistischer Partei Yisrael Beiteinu nicht zustande. ­Obwohl Blau-Weiß bei den Wahlen im März 2020 mit 33 Mandaten drei we­niger als der Likud erhielt, beauftragte Präsident Reuven Rivlin zunächst Gantz mit der Bildung einer Regierung. Die Bemühungen, eine von der Vereinten Liste, dem Bündnis der arabischen Parteien, geduldete Minderheitsregierung ohne Likud und ultraorthodoxe Parteien zu bilden, scheiterten. Die Covid-19-­Pandemie erfasste Israel, der Druck auf Gantz stieg, sich auf eine Koalition einzulassen, die seinen Wahlversprechen widersprach.

Angesichts der Krise ging Gantz mit Gabi Ashkenazi und den Abgeordneten seiner Partei als Blau-Weiß in die Koali­tionsverhandlungen, am 17. Mai wurden 35 Minister vereidigt – das bislang größte Kabinett Israels. Ihm gehören auch Orthodoxe und Sozialdemokraten an, während Yesh Atid und Telem in der Opposition blieben. Gantz ­wurde Verteidigungs-, Ashkenazi Außenminister.

Soweit es möglich war, regierte Netan­yahu in den vergangenen Monaten mit seinen engsten Vertrauten, ohne Rücksprache mit Blau-Weiß zu halten. So war über seinen Geheimbesuch in Saudi-Arabien Ende November, der mittlerweile durch Aussagen eines Likud-Ministers und die Analyse der Flugdaten bestätigt wurde, weder Gantz noch Ashkenazi oder der Generalstabschef der Armee, Aviv Kochavi, informiert.

Der außenpolitische Coup soll wohl dazu beitragen, im kommenden Wahlkampf Netanyahus diplomatische Erfolge hervorheben zu können. Netan­yahu arbeitet auf Neuwahlen hin, er verweigerte sich der Verabschiedung eines Doppelhaushalts für 2020 und 2021, wie er im Paragraph 30 des Koalitionsvertrags vereinbart wurde. Eigentlich hätte der Haushalt 100 Tage nach Regierungsbildung verabschiedet werden müssen, diese Frist wurde bis zum 23. Dezember verlängert. Der Likud will bis zu diesem Zeitpunkt jedoch nur ­einen Haushalt für 2020 beschließen – offenbar in der Erwägung, sich dann mit dem Koalitionspartner im Frühjahr über den Haushalt 2021 entzweien und Neuwahlen im Juni erzwingen zu können. Der Zeitpunkt wäre für Netan­yahu wohl günstig, denn dann hätten wahrscheinlich die Covid-19-Impfungen begonnen, die Wirtschaft würde sich möglicherweise erholen und seine desaströse Bilanz in der Pandemiebekämpfung könnte in Vergessenheit geraten.

Doch Gantz ließ seine Fraktion am 2. Dezember für einen von der Opposition eingebrachten Antrag auf Auflösung des Parlaments stimmen und machte so klar, dass er nicht beabsichtigt, auf die Verabschiedung eines Haushalts auch für 2021 zu verzichten. Der Antrag fand eine Mehrheit, die in weiteren Abstimmungen bestätigt werden muss, doch ist nun klar, dass Gantz trotz schlechter Umfragewerte Neuwahlen bereits im März anstrebt.

Für einen Zweijahreshaushalt sprechen auch wirtschaftliche Erwägungen. Experten wie der Vorsitzende der Nationalbank warnen, dass Israel ohne einen Haushalt für 2021 ökonomisch gelähmt werde. Einem Bericht der Nationalen Sozialversicherung zufolge er­litten während der Coronakrise bereits 711 000 Familien, etwa 2,4 Millionen Menschen, finanzielle Verluste. Das Budget für die Ministerien wurde seit 2018 nicht erhöht, obwohl etwa Ausgaben für die Unterstützung von Kindern und Alten an das Bevölkerungswachstum angepasst werden müssten. Ohne Haushalt können Förderprogramme für gefährdete Jugendliche und andere Hilfsprogramme nicht weitergeführt werden, der Armee fehlt die Grundlage für eine auf mehrere Jahre angelegte Planung.

In einer vielbeachteten Ansprache am Abend vor der Abstimmung über die Auflösung des Parlaments wurde Gantz deutlich: »Netanyahu hat nicht mich angelogen. Er hat euch alle angelogen.« Der Ministerpräsident habe Versprechen in Serie gebrochen und in unverzeihlicher Weise die Wirtschaft gefährdet. Wenn es keine Anklage gegen Netanyahu gäbe, so Gantz, dann hätte ­Israel einen Haushalt.

Zuvor hatte Gantz bereits einen im Wahlkampf versprochenen Untersuchungsausschuss zur sogenannten U-Boot-Affäre eingerichtet, dem vermutlich größten Bestechungsskandal in der Geschichte Israels. Obwohl Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit bereits klarmachte, dass es nach den vorliegenden Erkenntnissen keine Grundlage für eine strafrechtliche Verfolgung Netanyahus gebe, dürfte die Untersuchung der Waffengeschäfte mit dem Essener Konzern Thyssenkrupp für den Ministerpräsidenten unerfreulich werden, da einige seiner engsten Vertrauten unter Verdacht stehen.

Netanyahu und seine Anhänger versuchen, Blau-Weiß die Verantwortung für Neuwahlen zuzuschieben, und loben die staatliche Handhabung der Corona­krise. Doch Netanyahu hat mehrfach politischen und persönlichen Erwägungen Priorität vor der Seuchenbekämpfung gegeben. Das folgenreichste Beispiel ist die Rücknahme von Restriktionen für ultraorthodoxe Städte mit hoher Infektionsrate Anfang September – dies trug maßgeblich dazu bei, dass schließlich im ganzen Land erneut ein lockdown verhängt werden musste. Die ultraorthodoxen Parteien sind unverzichtbar für die von Netanyahu an­gestrebte Koalition. In einer am 4. Dezember in der Zeitung Maariv veröffentlichten Umfrage kommt der Likud auf 29 und das von Naftali Bennett geführte rechte Parteienbündnis Yamina auf 22 Mandate, nötig für eine Mehrheit sind 61 Stimmen.

Der kommende Wahlkampf wird wohl noch härter und hitziger werden als seine Vorgänger. Auf einen Appell an antiarabische Ressentiments muss Netanyahu allerdings verzichten, da er eine Kooperation mit dem Vorsitzenden der islamischen Partei Ra’am, Mansour Abbas, eingegangen ist, die dem Prinzip der Beziehung zu den ­Ultraorthodoxen folgt: Zugeständnisse für die community im Austausch gegen Stimmen.

Obwohl Bewohner und Bewohnerinnen der Entwicklungsstädte stärker vom Missmanagement in der Corona­krise betroffen sind, ist damit zu rechen, dass bei der Wahl identitätspolitische Beweggründe den Ausschlag geben werden – die Bevölkerungsgruppen nordafrikanischer und orientalischer Herkunft stimmen traditionell für den Likud. Bennett profitiert derzeit von seiner Kritik an der Coronapolitik der Regierung; wenn jedoch im Wahlkampf andere Themen dominieren, dürfte er hinter den derzeitigen Umfrageergebnissen zurückbleiben. Ein Bündnis zwischen Bennett und Lapid, das Netanyahu in Bedrängnis bringen würde – Yesh Atid und Telem können derzeit mit 18 Mandaten rechnen –, scheint wegen der extremen Positionen, die im rechten Parteienbündnis vertreten werden, unrealistisch.

Blau-Weiß unter Gantz wird sich wahrscheinlich mit der Arbeitspartei (Avoda) zu einer gemeinsamen Liste zusammentun. Sollten der ehemalige Generalstabschef Gadi Eizenkot und der Bürgermeister von Tel Aviv, Ron Huldai, zusammen mit Tzipi Livni, der ehemaligen Justiz- und Außenministerin, eine weitere zentristische Partei bilden, könnte diese zehn Sitze erreichen – überwiegend wohl auf Kosten Lapids. Da für die ultraorthodoxen Parteien 14 Mandate prognostiziert werden, könnte es Netanyahu doch noch gelingen, die von ihm gewünschte ­Regierungskoalition zu bilden.