Die gesammelten Songtexte von Jens Rachut

Dadaismus aus der Waldhütte

Jens Rachut war Sänger von zahlreichen Punkbands. Seine Songtexte kann man nun in einem mit vielen Zeichnungen von Raoul Doré versehenen Band nachlesen.

Von Zeit zu Zeit hat Jens Rachut auch bei befreundeten Bands als Texter ausgeholfen. Im Jahr 2001 etwa, als Die Goldenen Zitronen ihr Album »Schafott zum Fahrstuhl« aufnahmen, da schrieb er den Text zu »Der Mann, der mit der Luft schimpft«, und sang das Stück auch gleich selbst. Den Songtext mit seinen Satzfetzen und assoziativen Schleifen verstand man als Hörer nur so halb (»Wechsel deine Mutter / Immer ge­radeaus / Zukunft – dein ist / Die Zukunft – dein ist / Töte nur mit Blicken – dein ist / Maschinenparadiesmus – dein ist«), aber irgendetwas blieb hängen. Und wenn es nur die Fragen waren, die der Text aufwarf.

Rachuts Songtexte erzählen oft kleine Geschichten, manchmal sind sie wie Science-Fiction-Miniaturen, manchmal wie durchgeknallte kleine Fabeln. Dann wieder zeigen sie sich im Stil der Lyrik der historischen Avantgarden.

So ähnlich seien die Reaktionen auf seine Texte häufig gewesen, sagt Jens Rachut der Jungle World rückblickend: »Die Leute damals haben ­öfter gesagt: ›Den Text habe ich nicht so richtig verstanden, aber irgendwie klingt der ganz gut.‹ Oder als ich mal ein Theaterstück gemacht habe, haben die Besucher hinterher gesagt: ›Ich hab’ nicht alles kapiert, aber es war ein geiles Stück.‹ Das ist das größte Kompliment, das man mir machen kann.«

Jens Rachut ist einer der ungewöhnlichsten (Song-)Texter des Landes. Der Künstler und Musiker, der 1954 in Hamburg geboren wurde und mittlerweile in der Nähe seiner Geburtsstadt in einer kleinen Waldhütte lebt, hat seit den frühen Achtzigern in verschiedensten Punk- und Post-Punk-Bands gespielt, seine Gruppen trugen so klingende Namen wie Angeschissen, Blumen am Arsch der Hölle, Dackelblut, Oma Hans und Kommando Sonne-nmilch. Heut­zutage singt er in der vom Noiserock geprägten Band Maulgruppe und bei der etwas experimentelleren Gruppe Alte Sau – mit beiden hat er gerade neue Alben eingespielt, die bald bei Major Label aus Jena erscheinen. Daneben produziert Rachut Hörspiele und tritt als Schauspieler auf.

Seine Songtexte erzählen oft kleine Geschichten, manchmal sind sie wie Science-Fiction-Miniaturen, manchmal wie durchgeknallte kleine Fabeln. Dann wieder zeigen sie sich im Stil der Lyrik der historischen Avantgarden, mit einer Reihung von Substantiven oder kurzen Sätzen wie im eingangs erwähnten Song oder in »Herbst und Heroin« aus dem Jahr 1993: »Menschen ­essen / Fernseher essen / Gut für sie / Herbst und Heroin«.

Insbesondere im deutschsprachigen Punk der Achtziger und frühen Neunziger – damals nicht gerade das Genre für fein- oder hintersinnige Texte – ragte Rachut damit weit heraus – so weit, dass nun ein Sammelband mit 128 seiner Lied- und Theatertexte erschienen ist. Der im November veröffentlichte Band heißt, angelehnt an den Zitronen-Song, »Der mit der Luft schimpft« – ein Fortsetzungsband ist nicht ausgeschlossen.

Anhand der Texte kann man die Themen gut nachvollziehen, die den Kern von Rachuts Werks bestimmen und zu denen er immer wieder zurückkehrt. Es sind die großen Themen: Tod, Liebe, Einsamkeit, Sex, Angst, Naturkatastrophen, manchmal auch Politik. Das klingt nach hartem Stoff, aber die Texte wirken nicht schwermütig, weil sie kleine Alltagsgeschichten erzählen. Wenn Rachut über die Nachwirkungen einer Trennung erzählt, dann schreibt er über eine flüchtige Begegnung mit der Ex-Freundin »neben dem Friseur« (»Friseur«, 1995) oder über einen Motorschaden (»Kolbenfresser«, 1992), und wenn er über biedere bis reaktionäre Deutsche schreibt, dann nimmt er einen Umweg über den damaligen niederländischen Nationaltorwart »Edwin van der Saar« (1997). Zum anderen klingt immer wieder der Humor an, etwa in »Die Unke« (2010), wo er sich über seine eigenen Fäkalwitzchen lustig macht (»Sag mal Jensen, ist das jetzt wirklich dein Ernst? Was ist das für ein Text?«). Den dadaistisch anmutenden Witz kann man übrigens auch entdecken, wenn man sich auf seiner Website über das von ihm erfundene Wesen Öölmf informiert, ein drei Meter großer Vogel, der fast aus­gestorben ist.

Auffällig ist, wie die Endlichkeit des eigenen Daseins, wie Tod und (Gedanken an) Suizid sich als Sujets durch Rachuts Texte ziehen, etwa in »Rest von sein Geschirr« (1997) oder »Zack« (2013) von Kommando Sonne-nmilch (»Diese kleine Möglichkeit der Unsterblichkeit / Aber das gab noch nie / Ein Fehler der Regie? / Gibt es da ein Hoffnungslicht? / Nein das glaube ich einfach nicht«).

»Das ist so eine Schwermut bei mir«, sagt er im Telefongespräch, »wenn ich die nicht hätte, dann wäre ich wahrscheinlich irgendein Flachkopf, ein Karnevalstyp, der nur oberflächliche, schlechte Witze erzählt.« Er könne gar nicht anders, als sich in seinen Texten mit dem Abgründigen zu befassen. »Ein Freund hat irgendwann zu mir gesagt: ›Schreib’ doch mal ein Buch über eine Welt, in der alles in Ordnung ist.‹ Also in der wirklich alles stimmt: Die Kinder bekommen eine gute Ausbildung, mit der Umwelt ist alles in Ordnung, die Beziehungen funktionieren. Ich hab dann angefangen und bin bis zur sechsten Seite gekommen. Ich konnte das nicht. Dabei habe ich das Konzept schon verstanden, man könnte darüber ja auch schreiben, ohne in so einen Kitsch reinzuge­raten.«

Illustriert ist »Der mit der Luft schimpft« mit Zeichnungen des Hamburger Künstlers und Bühnenbildners Raoul Doré (alias Pencil Quincy), die sehr gut mit den Texten korrespondieren. Verwachsene ­Gestalten, Ungeheuer, Fabelwesen und Tiere sind darauf zu sehen, die Tierwelt und die Evolution sind ebenfalls wiederkehrende Motive im Rachut’schen Kosmos (»Kalter Mammut«, 2002). Da passt es auch ins Bild, dass er vor drei Jahren in eine Hütte im Wald gezogen ist. Er komme dort besser zur Ruhe, sagt er: »Deine Birne geht viel weiter auf, du bekommst einen ganz anderen Blick auf die Dinge.«

Den einen Prozess, wie seine Texte entstünden, gebe es nicht, sagt er – und man dürfe auch nicht vergessen, wie viele schlechte Texte auf einen guten kämen: »Man schreibt ja auch viel Mist, gerade wenn die Zeit drängt. Ich bewahre das trotzdem auf, das ist dann irgendwo in einem Ordner. Als wir vor kurzem mit Maulgruppe im Studio waren, ist mir auch nichts eingefallen, ich habe dann auch gesungen, dass mir nichts einfällt.«

Ein feines Gimmick findet sich versteckt ganz hinten im Buch: ein Download-Link für 25 Songs aus allen Schaffensphasen (»Meine schönsten Wanderlieder aus 4 Dekaden«). Die gesungene Sprache ist, wie man dann hören kann, oft weit entfernt vom blanken Text, ist teils Sprech­gesang, teils in die Länge gezogen und geschrien. Welche Performance, welche Stimmgewalt zu den Texten gehört, kann man dann gut nach­zuvollziehen. Ein lohnender Ritt durch vier Jahrzehnte deutscher Punk­geschichte sind diese Songs sowieso.

Jens Rachut / Raoul Doré: Der mit der Luft schimpft. Ventil-Verlag, Mainz 2020, 232 Seiten, 20 Euro