Die Regierung in den Niederlanden ist zurückgetreten

Die Behörde, die Arme noch ärmer machte

Jahrelang hat die niederländische Steuerbehörde Eltern zu Unrecht des Betrugs verdächtigt. Alleinerziehende traf es besonders hart. Deshalb ist nun die Regierung des Ministerpräsidenten Mark Rutte zurückgetreten.

Bei einer Pressekonferenz am Freitag vergangener Woche kündigte der Ministerpräsident der Niederlande, Mark Rutte von der marktliberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), den Rücktritt des Kabinetts an; es ist die dritte von ihm geführte Regierung. Grund dafür ist die sogenannte Toeslagenaffaire: Die niederländische Steuerbehörde soll mehr als 20 000 Eltern über Jahre hinweg zu Unrecht verdächtigt haben, bei Kinderbeihilfen betrogen zu haben. Die Behörde hatte deswegen unberechtigte Rückzahlungsforderungen erhoben.

Ganz überraschend kam der Rücktritt nicht, die Angelegenheit beschäftigt die niederländische Politik schon seit 2014. Damals wurden die ersten Klagen gegen die Behörde erhoben. Ein im Dezember veröffentlichter parlamentarischer Untersuchungsbericht mit dem Titel »Ungekanntes Unrecht« bildete den vorläufigen Höhepunkt des Skandals. Darin fällen die Mitglieder der Untersuchungskommission ein hartes ­Urteil über das Vorgehen der Behörde. Sie habe dem »Rechtsstaat grundsätzlichen Schaden zugefügt«. Der Betrugsverdacht der Behörde habe oft zu Rückzahlungsforderungen geführt. Vor allem proletarische Familien seien dadurch in große finanzielle Not geraten, da sie sich hoch verschulden mussten.

Insbesondere alleinerziehende Mütter mit vermeintlichem oder tatsächlichem Migrationshintergrund habe es hart getroffen. Der Sender Hart van Nederland berichtete beispielsweise über Patricia, eine alleinerziehende Mutter. Vor ein paar Jahren habe sie einen Brief von der niederländischen Steuerbehörde erhalten und die erhaltene Beihilfe für die Kindertagesstätte ihres Kindes zurückzahlen müssen. Der Betrag belief sich demnach inklusive Säumniszuschlägen und Zinsen auf über 40 000 Euro.

Dabei geht es nicht nur um die staatliche Verdächtigung von Bürgerinnen im Allgemeinen. Die Steuer­behörde handelte gemäß einer Regierungsrichtlinie, die zum schärferen Vorgehen gegen »Sozialmissbrauch« anhielt. Diese Politik hatten auch schon die Vorgängerkabinette Rutte I und II betrieben; an Letzterem war auch die Sozialdemokratie beteiligt. Die extrem rechte Partei Partij voor de ­Vrijheid (PVV) von Geert Wilders hatte entsprechende Kampagnen geführt. Dem Abschlussbericht zufolge habe das in einer institutionalisierten Diskriminierung gemündet.

Die Steuerbehörde habe demnach von 2013 bis 2018 die Nationalität der Antragsstellerinnen als einen Indikator in ihrer Betrugsrisikobewertung geführt. Besonders häufig gerieten bei der Überprüfung der Anträge Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit oder ohne niederländischen Pass in Verdacht. Die Autorinnen des Berichts ­berufen sich dabei auf eine Untersuchung der Datenschutzbehörde Autoriteit Persoonsgegevens aus dem Jahr 2019.

Recherchen der Zeitung Trouw vom Mai 2019 zufolge gingen einzelne Beamte der Behörde in ihrem Eifer dazu über, gezielt Eltern »ausländischer Herkunft« zu verdächtigen. In einer internen E-Mail der Behörde habe es ­geheißen, dass für die »Risikoanalyse« im Jahr 2014 Systemabfragen bezüglich der »Ethnizität« der Antragsstellerinnen gestellt werden sollten. Allerdings war diese Kategorie in der Datenbank der Behörde offiziell gar nicht vorgesehen. Wie genau die »Ethnizität« festgestellt wurde, ist daher nicht klar. Der Verdacht besteht, dass die Behörden sich an Namen und Wohnorten orientierten.

Die im Januar 2020 neu eingesetzte linksliberale Staatssekretärin Alexandra van Huffelen (D66) hatte kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres erstmals zugegeben, dass die Behörde unrechtmäßig gehandelt habe. Sie kündigte an, dass die betroffenen Eltern eine einmalige Schadensersatzzahlung von 30 000 Euro erhalten würden.

Die Betroffenen fordern jedoch darüber hinaus weitere Aufklärung, etwa in der Frage, ob systematisch Menschen mit vermeintlich ausländischen Nachnamen verdächtigt worden seien und ob die Behörde racial profiling betrieben habe. Die Rücktritte der verantwortlichen Minister und des Ministerpräsidenten bewerten viele als Symbolpolitik, wie die Tageszeitung Volkskrant am Freitag voriger Woche festhielt. Im März sollen in den Niederlanden ohnehin Parlamentswahlen stattfinden.

Drei Tage vor Ruttes Rücktrittserklärung, am 12. Januar, hatte bereits Lodewijk Asscher von der sozialdemokratischen Partij van de Arbeid (PvdA) ­angekündigt, sich als Spitzenkandidat seiner Partei für die Parlamentswahlen zurückzuziehen. Er war als Minister für Arbeit und Soziales im Kabinett Rutte II für die harte Linie der Regierung mitverantwortlich. Rutte selbst zog indes keine persönlichen Konsequenzen für die anstehende Wahl und bleibt aussichtsreicher Spitzenkandidat der VVD.

Die Regierung, die bis zu den Wahlen geschäftsführend im Amt bleibt, scheint einen Schlussstrich unter die Debatte ziehen zu wollen. Diskutiert wird nun über eine grundsätzliche Reform der Beihilfen, die als zu komplex und deswegen anfällig für Betrug gelten. Die rassistische Dimension des Skandals wird in den Hintergrund gerückt. Im anlaufenden Wahlkampf für die Parlamentswahl im März geht es für linke Oppositionsparteien wie Groenlinks, die Socialistische Partij oder die feministische und antirassistische Partei BIJ1 also auch darum, wie die behördliche Praxis gedeutet wird. Doch aktuellen Umfragen zufolge scheint die Kommunikationsstrategie der Regierungsparteien aufzugehen.