Wie Spencer Sunshine zum Objekt ­einer Verschwörungstheorie der US-Rechten wurde

Wie ich zum Qanon-Schamanen erklärt wurde

Seit 1990 ist der Autor und Forscher in der antifaschistischen Bewegung in den USA aktiv. Drohungen aus der extremen Rechten sind für ihn nichts Neues, doch am Tag des Sturms auf das Kapitol erlebte er eine Überraschung und erlangte ungewollt nationale Prominenz. Wie und warum er zum Objekt einer weitverbreiteten Verschwörungstheorie wurde.

Alle antifaschistischen Autoren wissen, dass sie Morddrohungen aus der ex­tremen Rechten bekommen. Sie wissen auch, dass in Verschwörungstheorien häufig nicht so bekannte Personen und Institutionen vorkommen; denn je weniger man über etwas weiß, desto leichter fällt es, Lügen darüber zu glauben. Juden sind natürlich das beliebteste Objekt von Verschwörungstheorien.

Dies ist also meine bizarre Geschichte, die eines antifaschistischen Forschers, der zum Gegenstand einer jahrzehntealten antisemitischen Verschwörungstheorie wurde, die kurzzeitig nationale Aufmerksamkeit erlangte, als extrem Rechte das US-Kapitol gestürmt hatten. Das heißt, dies ist eine persönliche Geschichte darüber, wie ich die Rechtsextremen beobachtete, wie dann die Rechtsextremen mich beobachteten und wie schließlich ich sie dabei beobachtete, wie sie mich beobachteten. Darüber hinaus ist es eine weitere ­Geschichte darüber, wie diejenigen, die als jüdisch bezeichnet werden, als Ziele sondiert werden.

Was an einem Tag das Geraune eines Neonazis ist, kann am nächsten ein Facebook-Post Ihrer Tante sein.

Am Tag der Erstürmung des Kapitols hielt ich mich auf dem Laufenden, indem ich die Twitter-Accounts der Leute vor Ort verfolgte. Ein rechter Aktivist namens »Qanon Shaman« – der den Leuten, die diese Dinge beobachten, bekannt war, da er nicht zum ersten Mal bei Kundgebungen mit Gesichtsbemalung, in Fell gehüllt und mit Hörnern als Kopfschmuck erschien – wurde auf dem Sitz von Vizepräsident Mike Pence im Senatssaal fotografiert. Dann begannen meine Freunde, mir Bilder eines Tweets zu schicken, in dem behauptet wurde, dass er in Wirklichkeit ein Geheim- und Doppelagent der Antifa sei: ich.

Ich ignorierte das zunächst. Die Verschwörungstheoretiker hatten in der vergangenen Woche ihre Aufmerksamkeit auf mich gerichtet und behauptet, ich würde nach Washington, D.C., gehen, um die Demonstration zu infiltrieren, damit ich Leute identifizieren könne. Aber nachdem die Menschen anfingen, mich anzurufen, um zu fragen, ob es mir gut gehe – einschließlich alter Freunde von der Universität und sogar ehemaliger Freundinnen, mit denen ich schon eine Weile nicht mehr gesprochen hatte –, schaute ich mir genauer an, was vor sich ging. Der Tweet, in dem ich erwähnt wurde, war von Lin Wood, einem Anwalt, der im Namen Donald Trumps die Regierungen einiger Bundesstaaten verklagt und behauptet hat, die Wahl sei gestohlen worden. Ehrlich gesagt hatte ich vorher noch nie von ihm gehört. Ich wusste auch nicht, dass er eine Million Twitter-Follower hat.

Drohungen folgten natürlich. Über Woods Tweet berichtete die New York Times, und zwar in einem Artikel, der die falschen Behauptungen entlarvte, die im Umlauf waren und denen zufolge die Antifa heimlich die rechte Gewalt angeheizt habe. Diese Behauptung war unter den Rechten bereits so weit ­verbreitet, dass sie von einem Kongressabgeordneten diskutiert wurde, noch während die durch die Besetzung des Kapitols verzögerte Abstimmung zur Bestätigung des Wahlergebnisses anstand.

Woods Twitter-Account wurde gesperrt, aber nicht bevor der Beitrag – bei meiner letzten Überprüfung – über 25 000 Retweets und fast 50 000 Likes hatte. Zwischen den Drohbotschaften, die mir in den sozialen Medien geschickt wurden (und die ich im Laufe der Jahre weitgehend zu ignorieren ­gelernt hatte), beobachtete ich, wie sich die Verschwörungstheorie auf anderen Plattformen verbreitete und weiter ausgearbeitet wurde. Erst war ich ein CIA-Agent, dann war ich verhaftet worden und so weiter.

Unterdessen war der »Qanon-Schamane« – auch bekannt als Jake Angeli – wütend darüber, dass er von seinen rechtsextremen Mitverschwörern verleumdet wurde. Und wer kann es ihm verdenken? Ein Screenshot von ihm, wie er wütend auf Wood antwortet, machte ebenfalls die Runde und tauchte sogar auf einer »Know Your Meme«-Seite auf. Ich für meinen Teil fühlte mich ziemlich geschmeichelt, mit einem Mann verwechselt zu werden, der etwa 15 Jahre jünger ist als ich – und auch viel besser in Form.

Wie wurde ich also zum Gesicht – oder besser gesagt, zum Namen des Gesichts eines anderen – einer rechten Kampagne, die Verbrechen leugnet, die von ­anderen Rechten begangen wurden? Es war der Höhepunkt einer seit einem Jahrzehnt kursierenden, sich ständig verändernden Verschwörungstheorie über mich, die ursprünglich von Neonazis zusammengesponnen, von ihren Sympathisanten verbreitet und schließlich von einem populären Verschwörungstheoretiker übernommen worden ist.

Verschwörungstheorien enthalten meist ein Körnchen Wahrheit. Die über mich nahm ihren Ausgang davon, dass ich vor einem Jahrzehnt einen Vortrag über linken Antisemitismus vor einer Antifa-Gruppe in Portland, Oregon, gehalten hatte. Ein Neonazi bekam das mit und verbreitete das Gerücht, ich sei der führende Antifa-Ideologe; als andere das aufgriffen, wurde ich bald zum »Antifa-Anführer«.

Dann kam die berüchtigte »Unite the Right«-Kundgebung in Charlottesville, Virginia, im Jahr 2017; ich war während des Angriffs mit dem Auto, bei dem Heather Heyer von einem Rechtsextremen getötet wurde, in der Nähe und zog schnell die Aufmerksamkeit der Neonazis bei 4chan und 8chan auf mich. Bald wurde ich als der »internationale Anführer der Antifa« bezeichnet. (Die Bezeichnung »international« basiert wahrscheinlich darauf, dass zwei Dinge vermischt wurden: Erstens ist meine Familie zum Teil jüdisch und zweitens war ich im Jahr 2016 auf einer Vortragsreise in Deutschland gewesen.)

Ein besonders bösartiger faschistischer Troll, Daniel McMahon, nannte mich »den bösesten Juden in den USA« und »das pure Böse«. (McMahon sitzt derzeit im Gefängnis, weil er ­einen schwarzen Kandidaten für den Stadtrat von Charlottesville bedroht hat.) Meistens amüsierte ich mich über derlei Behauptungen – bis im Oktober 2018 Robert Bowers, dessen engster Online-Kontakt McMahon war, elf Menschen in einer Synagoge in Pittsburgh ermordete. Da McMahon mir so viel Aufmerksamkeit schenkte – hatte Bowers erwogen, mich zu ermorden?

Ein weiterer Vorfall wurde der Verschwörungstheorie hinzugefügt. Ich nahm den Auftrag an, als Journalist über eine rechtsextreme Kundgebung zu berichten, und um nicht aufzufallen, trug ich das T-Shirt einer Versicherungsgesellschaft, die von Soldaten und deren Familien genutzt wird. Ein Verschwörungstheoretiker, der die Behauptungen der Nazis über mich gelesen hatte, sah mich und behauptete, ich sei ein als Rechter getarnter Antifa-Agent, der heimlich Informationen sammele, um sie auszuspionieren und zu identifizieren. (In Wirklichkeit war es eine langweilige Kundgebung und ich wollte nur für den Artikel bezahlt werden.)

Am Tag vor der Kundgebung, deren Teilnehmer ins Kapitol eindringen sollten, tauchte dieses Gerücht über mich wieder auf. Dieses Mal wurde ­behauptet, ich sei im Begriff, als Rechter verkleidet den Protest zu infiltrieren. Wood griff diese Verschwörungstheorie auf und nutzte sie, um zu behaupten, ich sei ein Antifa-Doppelagent, der sich als der verkleidete Qanon-Schamane ausgibt.

Zwei Lehren kann man hieraus ziehen, eine über Antisemitismus und eine über soziale Medien. Erstens waren es Neonazis und später ihre Sympathisanten, die die Idee ausgekocht haben, dass ich die Antifa führe. Ihre Verschwörungen wurden dann »gewaschen«, wobei die Hinweise auf mich als Jude wegfielen. Aber wie bei üblichen Verdächtigen wie den Rothschilds und Israel kann der offensichtlich ­antisemitische Teil verschwinden, und doch bleibt das Ziel unverändert ebenso wie der größere Rahmen des antisemitischen Weltbilds. Vorher war die Verschwörung: »Juden kontrollieren die Kommunisten und konspirieren, um unsere christliche Nation zu untergraben.« Jetzt heißt es: »Die Antifa unterwandert heimlich patriotische Trumpisten, um die Nation zu zerstören.« Ich würde bezweifeln, dass viele der Trumpisten, die mich für einen Qanon-Schamanen halten, vom Antisemitismus angetrieben werden. Aber wenn man sich anschaut, wie sich die Verschwörungstheorie über mich entwickelt hat, dann wäre ich ohne den Antisemitismus niemals eine Billigversion von George Soros geworden.

Zweitens zeigt die erstaunliche Geschwindigkeit, mit der Verschwörungstheorien aus obskuren rechtsextremen Kreisen auf eine nationale Plattform gelangten, wie schnell solche Inhalte mit Hilfe sozialer Medien von den ­Rändern den Mainstream erreichen können. Was an einem Tag das Ge­raune eines Neonazis ist, kann am nächsten ein Facebook-Post Ihrer Tante sein. (Eine Freundin erzählte mir, dass sie so von dem Tweet erfahren habe.) Es bedarf nur eines Rechten mit einer Million Twitter-Followern, um Zehntausende von Menschen davon zu überzeugen, dass ich mit bemaltem Gesicht heimlich die Gewaltausbrüche im Kapitol gelenkt habe – während ich eigentlich nur auf meiner Couch saß und beobachtete, was auf Twitter geschah.

Ich gebe zu, dass ich gespannt bin, was die nächste Version der Verschwörungstheorie über mich sein wird. Aber ich muss sagen, ich bin auch ein bisschen nervös.