Ein Alternativbericht zur Istanbul-Konvention kritisiert die Bundesregierung

Muster­schülerin gesucht

Ein Alternativbericht über die Umsetzung der Istanbul-Konvention zeigt große Lücken beim Kampf gegen Gewalt an Frauen und bei der Unterstützung der Betroffenen.

Es gibt noch viel zu tun. Ein Bündnis aus über 20 Migrantinnen-, Frauenrechts- und Wohnungslosenverbänden hat am vorvergangenen Donnerstag einen Alternativbericht über die Umsetzung der sogenannten Istanbul-Konvention vorgestellt. Das »Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt« ist ein völkerrechtlicher Vertrag, den die Bundesregierung 2017 ratifiziert hat und der hierzulande seit Frühjahr 2018 geltendes Recht ist. Er soll einen europaweiten rechtlichen Rahmen schaffen, um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Die Türkei hat vor zwei Wochen beschlossen, die Konvention wieder zu verlassen; konservative türkische Politiker hatten den Austritt mit der Begründung gefordert, das Übereinkommen begünstige Scheidungen. In der Türkei protestierten daraufhin Tausende Frauen. Das Auswärtige Amt rügte den türkischen Präsidenten Recep Tay­yip Erdoğan und sprach unter anderem von einem »falschen Signal an Europa«. Die Türkei ist seit 1999 ein Beitrittskandidat der Europäischen Union.

Dem Alternativbericht zufolge ist die Bundesrepublik keine Musterschülerin, was die Umsetzung der Konvention angeht. Es fehle auf Bundesebene eine »ressortübergreifende Gesamtstrategie«, bestehende Einrichtungen wie die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Häusliche Gewalt oder die Initiative des Bundesfamilienministeriums »Stärker als Gewalt« würden einer solchen Strategie »nicht ansatzweise« gerecht. »Das Thema ist seit Jahren ein Verschiebebahnhof, wo Bund, Länder und Kommunen sich gegenseitig die Zuständigkeiten hin- und herschieben«, sagte Britta Schlichting von der Zentralen Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (ZIF) der Jungle World. Das ZIF ist Mitglied im Bündnis Istanbul-Konvention, das seit 2018 die Umsetzung der Konvention begleitet. Eine der Kernforderungen des Bündnisses ist daher die Einrichtung einer bundesweiten staatlichen Koordinierungsstelle. Die Bundestagsfraktionen der Linkspartei, der Grünen und der FDP fordern seit Ende 2019 eine solche Stelle.

Innerhalb Deutschlands existieren große Unterschiede. So haben einige Kommunen wie das hessische Darmstadt Teilzeitstellen zur Umsetzung der Konvention eingerichtet. Die Angestellten kümmern sich unter anderem um eine bessere Kooperation von Jugendämtern, Polizei und Frauenbe­ratungen beispielsweise bei Gewaltschutzmaßnahmen im Sorge- und Umgangsrecht. Darmstadt hat zudem ein Monitoring eingeführt und erhebt Dunkelfeldzahlen, um die Nutzung der Unterstützungsangebote zu verbessern. Auf Bundesebene fehlten hingegen systematische Erhebungen zum Dunkelfeld, wie der Alternativbericht bemängelte.

Der Bericht attestiert eine fortschreitende »Entgeschlechtlichung« bei Maßnahmen gegen häusliche Gewalt, beispielsweise bei der Initiative »Stärker als Gewalt«. Männer werden hierbei gleichermaßen als Opfer adressiert. »Wir beobachten eine Individualisierung des Problems der Gewalt gegen Frauen. Patriarchale Machtverhältnisse werden entnannt, dabei sind diese der Kontext, in dem häusliche und sexualisierte Gewalt auch heute noch stattfinden«, sagte Schlichting.

Des Weiteren gebe es zu wenig Schutzeinrichtungen und Beratungsangebote, die nicht nur barrierearm erreichbar, sondern auch für Transfrauen, geschlechtlich nichtbinäre Personen sowie Frauen mit psychischen Erkrankungen oder Suchtmittelabhängigkeit offen sind. Außerdem nennt der Bericht Handlungsbedarf hinsichtlich des Schutzes geflüchteter Frauen. So existieren nur in zehn Bundesländern Gewaltschutzkonzepte für Geflüchtetenunterkünfte, deren Qualität und Gestaltung zudem variieren.

Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass bundesweit keine angemessenen Fort- und Weiterbildungen für Fachkräfte, die mit Betroffenen häuslicher und sexualisierter Gewalt zu tun haben, angeboten würden. Dies betreffe insbesondere die Gesundheitsversorgung, die Ermittlungs- und Justizbehörden, das Militär, den Bildungsbereich sowie die soziale Arbeit. So existieren beispielsweise zwar vereinzelt Fortbildungen für medizinisches Personal in Notaufnahmen von Kliniken, diese sind aber nicht verpflichtend. Im Land Berlin hat nur ein Bruchteil der Rettungsstellen ein Interventionskonzept erarbeitet. Opfer von Gewalt sind darauf angewiesen, dass zufällig geschultes Personal an Ort und Stelle ist, das sie traumasensibel behandelt, Verletzungen dokumentiert und sie an spezialisierte Hilfseinrichtungen verweist. Ein vom Europarat eingesetzter Expertinnen- und Expertenausschuss hat angekündigt, im Herbst nach Deutschland zu kommen und erstmals offiziell zu prüfen, wie das Übereinkommen verwirklicht wird. »Es wird sich zeigen, ob die neue Bundesregierung bereit ist, alle relevanten Ressorts in die Verantwortung zu nehmen und der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in Zukunft Priorität einzuräumen«, sagte Schlichting.