Ruanda, 27 Jahre nach dem Genozid

Verblendung und Verantwortung

Ein neuer französischer Kommissionsbericht bewertet die Rolle des Landes beim Genozid in Ruanda 1994. In dem autokratisch regierten Land wird unterdessen Paul Rusesabagina der Prozess gemacht, der damals mehr als 1 200 Menschen rettete.

Welche Verantwortung trägt Frankreich für den Genozid in Ruanda? Es gibt verschiedene Interpretationen des offiziellen Untersuchungsberichts, den eine Historikerkommission unter Vorsitz des 51jährigen Vincent Duclert in Frankreich am 26. März vorlegte. Staatspräsident Emmanuel Macron hatte den Forschern die Archive geöffnet.

Dem Völkermord in Ruanda fielen von April bis Juli 1994 etwa 800 000, möglicherweise auch eine Million Menschen zum Opfer, überwiegend An­gehörige der Bevölkerungsgruppe der Tutsi. Die Täter waren nationalistische Extremisten der »Hutu Power«-Bewegung. Hutu und Tutsi waren ursprünglich durch ihre Wirtschaftsform gekennzeichnete soziale Gruppen, die im Laufe des 20. Jahrhundert zunächst deutsche und dann belgische Kolonialisten, später örtliche Hutu-Nationa­listen, als »Rassen« definierten. Der Genozid wurde durch den militärischen Sieg der Guerillaorganisation Ruandische Patriotische Front (RPF) beendet, die seitdem als Partei die Regierung führt.

Vor allem wegen seiner Prominenz gilt Rusesabagina dem Regime als besonders gefährlicher Opposi­tio­neller – und er hatte wohl zeitweise dubiose Verbündete.

Am 7. April, dem Jahrestag des Beginns des Völkermords, überreichte Duclert den rund 1 000 seitigen Rapport in der Hauptstadt Kigali dem ­ruandischen Präsidenten Paul Kagame. Dieser, selbst Tutsi, bezeichnete die ­Erstellung und Übergabe des Berichts als historischen Fortschritt.

Frankreich war unter dem sozialdemokratischen Staatspräsidenten François Mitterrand und dem konservativen Premierminister Edouard Balladur seit Oktober 1990 in Ruanda militärisch aktiv, um das Eindringen der von Uganda aus operierenden, faktisch von Kagame geführten RPF zu verhindern. Vor allem Mitterrand, dessen erster Regierungsposten 1950/1951 der eines Kolonialministers gewesen war, betrachtete den Konflikt vollständig unter dem Blickwinkel des Kampfs um Einflusszonen. Da Uganda ein englischsprachiges Land ist und Kagame zeitweilig in den USA eine militärische Ausbildung absolviert hatte, sah Mitterrand die RPF als Instrument des Versuchs, nach dem Ende des Kalten Kriegs die französischsprachige postkolo­niale Einflusssphäre zugunsten der englischsprachigen zu beschneiden. Eine »Übergangsregierung« (GIR, gouvernement intérimaire rwandais) der »Hutu Power«-Organisatoren wurde am 9. und 10. April 1994 in den Räumlichkeiten der französischen Botschaft in Kigali gebildet. Vertreter des GIR wurden Mitte Mai 1994 in Paris empfangen, als bereits allgemein bekannt war, dass dessen Kämpfer einen Völkermord begingen und die UN ein Waffenembargo verhängt hatten.

Der Untersuchungsbericht spricht unter anderem von kontinuierlicher ­politischer »Verblendung« in Paris, von einer ethnisierenden Sichtweise der Entscheidungsträger und »niederschmetternden Verantwortlichkeiten«. Dass die Hutu-Extremisten von Frankreich sowohl politisch als auch militärisch unterstützt wurden, geht un­zweideutig aus dem neuen Bericht hervor. Im Abschlussteil wird allerdings auch festgestellt, Frankreich habe nicht die Intention gehabt, an einem Völ­kermord teilzunehmen. Französische Nationalisten wie der Fernsehjournalist Éric Zemmour berufen sich allein auf solche Sätze.

Die Arbeit der Unter­suchungskommission und die Publikation ihres Berichts sollten die bilateralen Beziehungen entspannen. ­Bereits der konservative Präsident Nicolas Sarkozy (2007 bis 2012) hatte sich um eine solche Annäherung bemüht, während der sozialdemokratische ­Präsident François Hollande (2012 bis 2017) vor allem darauf bedacht war, dass kein schlechtes Licht auf die Mitterrand-Ära fällt. Ein Staatsbesuch ­Emmanuel Macrons in Kigali ist für Anfang Mai geplant.

Unmittelbar nach dem Genozid konnte man von der RPF schwerlich den Aufbau einer Musterdemokratie erwarten, doch hat sich seitdem ein sehr ­repressives und autoritäres System gefestigt. Dies zeigt der derzeit laufende Prozess gegen den 66jährigen, international bekannten früherer Hoteldirektor Paul Rusesabagina, der ­zunächst als Held gefeiert worden war.

Rusesabagina war 1994 Betreiber des »Hôtel des mille collines« in Kigali. Während des Genozids rettete er gut 1 000 Menschen, indem er sie in den Räumen seines Hotels versteckte und den mordenden Milizionären und Soldaten keinen Zutritt gewährte. Er ist Hutu, die meisten der Geretteten waren Tutsi. Auch Rusesabaginas Adoptivtochter Carine Kanimba ist Tutsi, ihre Eltern wurden während des Genozids ermordet. Rusesabaginas Geschichte wurde nicht zuletzt durch die semidokumentarische Verfilmung »Hotel Ruanda« (2004) bekannt.

Rusesabagina lebte seit Jahren im Exil in den USA, nachdem er Ruanda 1996 verlassen und zunächst in Belgien Asyl erhalten hatte. Damals widersprach er militärischen Maßnahmen gegen die Flüchtlingscamps im damaligen Zaire – heute Demokratische Republik Kongo (DRK) –, in denen vor allem Hutu-Zivilisten lebten, die aber auch den entkommenen Hutu-Extremisten als Basis für die Fortsetzung ihres Kampfs dienten.

Vor allem wegen seiner Prominenz gilt ­Rusesabagina dem Regime als ­besonders gefährlicher Oppositioneller – und er hat wohl zeitweise dubiose Verbündete besessen. 2017 war Rusesabagina an der Gründung des Rwandan Movement for ­Democratic Change (RMDC) beteiligt, einer Organisation, die auf interna­tionaler Ebene mit legalen Mitteln agiert, in Ostafrika jedoch über einen bewaffneten Arm, die National Libe­ration Front (NLF), verfügt, dem auch Anschläge zur Last gelegt werden.

Die NLF scheint vor allem durch die Nachrichtendienste der mit Ruanda im Konflikt stehenden Nachbarländer DRK und Burundi unterstützt zu werden. Im östlichen Kongo kooperiert sie offen mit den Demokratischen Kräften zur Befreiung Ruandas (FDLR), die von früheren Tätern des Völkermords aufgebaut wurden und wiederholt Angriffe auf das Grenzgebiet Ruandas verübten, aber auch auf eine Bevölkerungsgruppe im Ostkongo wohnender Tutsi, die Banyamulenge. Zu einigen ­Anschlägen in den Grenzregionen Ruandas bekannte sich die NLF, unter ­anderem zum Angriff auf einen Touristenbus, bei dem 2018 zwei Menschen getötet und mehrere verletzt wurden. Rusesabagina gibt an, er habe nur mit den Aktivitäten des RMDC im Ausland zu tun, aber nichts mit ­solchen bewaffneten Anschlägen.

Im August 2020 bestieg er in Chicago ein Flugzeug nach Dubai, dort stieg er in eine kleine Maschine, die ihn in das ostafrikanische Burundi bringen sollte, wo er in Kirchen für seine Sache pre­digen wollte. Dafür hatte er die Einladung eines Pastors namens Constantin Niyomwungere erhalten. Doch alles war vom ruandischen Regime eingefädelt und finanziert worden, wie dessen Justizminister in einem Interview mit dem Sender al-Jazeera im Februar erklärte. Statt in Burundis Hauptstadt Bujumbura landete die Maschine einige Hundert Kilometer weiter nördlich in Kigali. Rusesabagina blieb drei Tage lang verschwunden und tauchte dann in Fernsehaufnahmen in der landes­üblichen rosafarbenen Häftlingskleidung auf. Human Rights Watch spricht von einem Fall »erzwungenen Verschwindenlassens«, auch das Europaparlament kritisierte in einer Resolu­tion die Entführung.

Mitte Februar begann in Kigali ein Prozess wegen »Terrorismus« gegen Rusesabagina. 20 Mitangeklagte sind geständig. Rusesabagina hatte sechs Monate Zeit gefordert, um seine Verteidigung besser vorbereiten zu können; die Prozessakten umfassen 5 00 Seiten. Dies wurde ihm jedoch verweigert. Er räumte ein, an der NLF-Gründung beteiligt gewesen zu sein, bestreitet jedoch jede Verbindung zu Anschlägen. Die Hauptbelastungszeugin gegen ihn ist eine US-Amerikanerin, Michelle Martin, die 2012 für die Stiftung Hotel Rwanda Rusesabagina Foundation arbeitete, aber nachweislich von der ru­andischen Regierung bezahlt wurde – bereits vor der Gründung von RMDC und NLF. Martin beeinflusste Rusesa­bagina und drängte ihn zu einer An­näherung an die FDLR, war also offenbar agent provocateur.

So hat Rusesabagina gute Gründe für seinen Vorwurf, er habe kein faires Verfahren zu erwarten. Deshalb kündigte der ­prominente Angeklagte am 12. März an, künftig dem ­Prozess nicht mehr beizuwohnen, der zwölf Tage später ohne ihn wieder aufge­nommen wurde.