Gerhard Trabert, Sozialmediziner, im Gespräch über Armut und Krankheit

»Wir brauchen eine Bürgerversicherung«

Sozial benachteiligte Menschen sind öfter krank, wohnen beengter und haben eine geringere Lebenserwartung. Die Coronakrise hat diese Ungleichheiten noch deutlicher zu Tage treten lassen.
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Sie beschäftigen sich mit dem Zusammenhang von Gesundheit und Armut. Welche Schlüsse ziehen Sie in dieser Hinsicht nach über einem Jahr Covid-19-Pandemie?
Zu Beginn der Pandemie sagten viele, das Virus mache alle gleich. Aber das Gegenteil ist der Fall: Die Pandemie hat die sozialen Unterschiede in Deutschland noch deutlicher gemacht. International ist das bereits umfangreicher erforscht worden, aber auch in Deutschland gibt es mittlerweile eine Studie von der AOK Rheinland/Hamburg und der Universität Düsseldorf, die nachweist, dass Erwerbslose ein stark erhöhtes Risiko haben, wegen einer Covid-19-Erkrankung im Krankenhaus behandelt werden zu müssen.

Vom Robert-Koch-Institut (RKI) veröffentlichte Statistiken besagen, dass die Zahl der Covid-19-Todesfälle während der zweiten Infektionswelle im vergangenen Herbst und Winter in sogenannten sozial benachteiligten Regionen am stärksten anstieg. Warum sterben arme Menschen allgemein früher als reiche?
Da gibt es viele Gründe. Zum einen sind sozial benachteiligte Menschen im Schnitt generell schon kränker. Sie sind häufiger chronisch erkrankt, ihre Lebenserwartung ist deutlich niedriger. Auch dazu veröffentlicht das RKI immer wieder Studien, die leider wenig Beachtung finden. Eine Studie von 2014 zeigte, dass Frauen mit weniger als 60  des Durchschnittseinkommens durchschnittlich 8,4 Jahre und Männer 10,8 Jahre früher starben als jene im reichsten Teil der Bevölkerung.

Woran liegt das?
Schon die Lebensbedingungen sozial benachteiligter Menschen sind oft ungesund. Arm zu sein, bedeutet Stress. Wer Hartz IV bezieht, dem stehen ­monatlich etwa 17 Euro für die gesundheitliche Versorgung zur Verfügung. Das ist ohnehin schon viel zu wenig, und für Masken und andere Hygieneartikel für den Infektionsschutz reicht das erst recht nicht. Fürs Essen ist im Hartz-IV-Satz ein täglicher Betrag von 5,15 Euro vorgesehen. Davon kann man sich nicht gesund ernähren. Während der Pandemie sind auch noch die Lebensmittelpreise gestiegen. Außerdem leben die meisten Menschen, die so­ziale Transferleistungen beziehen, in beengten, umweltbelasteten Wohn­verhältnissen. Ein Auto ist auch nicht finanzierbar, also sind die Menschen auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen. Das bedeutet auch wieder ein höheres Infektionsrisiko.

Um welche Bevölkerungsgruppen geht es?
Einkommensarmut betrifft sehr viele Menschen. Menschen, die zum Beispiel erwerbslos sind, aber auch viele Alleinerziehende, in der Regel alleinerziehende Mütter. Außerdem sind Wohnungslose und Geflüchtete betroffen. Letztere haben darüber hinaus auch noch einen schlechteren Krankenversicherungsschutz als Deutsche. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz dürfen nur akute Erkrankungen und Schmerzzustände behandelt werden – das halte ich für einen Skandal.

Armut macht also anfälliger für Krankheiten. Inwiefern kann Krankheit auch Armut verstärken?
Krankheit, insbesondere chronische, führt oft zu Verarmung. Krankheit ist mittlerweile einer der häufigsten Gründe für Überschuldung in Deutschland. Durch eine schwere oder chro­nische Erkrankung reduziert sich häufig das Einkommen aus der Erwerbsarbeit, weil die Menschen nicht mehr so belastbar sind oder vollständig aufhören müssen, zu arbeiten. Gleichzeitig gibt es mehr Ausgaben. Einige Gesundheitsleistungen werden nicht von der Krankenversicherung gezahlt. Und Kinder, die in Armut aufwachsen, sind wiederum häufiger krank. Es bedingt sich also gegenseitig: Krankheit führt zu Armut und Armut zu Krankheit.

Was ist das Ziel Ihrer sozialmedizinischen Betreuung in Mainz?
Ich arbeite als mobiler Arzt, wir haben also ein fahrendes Sprechzimmer, mit dem wir die Menschen aufsuchen, wo sie sind. Gleichzeitig haben wir eine Poliklinik aufgebaut, wo Wohnungslose, Menschen ohne Papiere, Asylbewerber und andere behandelt werden, die zum Beispiel keinen Versicherungsschutz haben. Dort arbeiten neben medizinischem Fachpersonal auch Sozialarbeiter und Juristen, denn wir möchten keine Armutsmedizin betreiben. Unsere Forderung und unser Anspruch sind es, uns überflüssig zu machen; die Menschen sollen im Regelsystem versorgt werden.

Wie geht es Wohnungslosen in der Pandemie?
Für wohnungslose Menschen war die Pandemie von Anfang an besonders belastend, weil Beratungsstellen, Teestuben und andere unterstützende ­Organisationen geschlossen haben und weggebrochen sind. Weil die Innenstädte nicht mehr so stark besucht werden, fällt außerdem das Flaschensammeln weg und man kann viel weniger Menschen um Spenden bitten. Außerdem hat man ohne Wohnung keinen Infektionsschutzraum. Viele Wohnungslose wussten zudem lange nicht, wie sie an Hygieneartikel gelangen sollen. Wir haben deshalb Masken und Ähn­liches mit unserem Mobil verteilt.

Wie hätte die Verteilung von Hy­gieneartikeln organisiert werden sollen?
Die Hygieneartikel müssen dort hingebracht werden, wo die Menschen leben: Auf die Straßen oder in die Unterkünfte. Es nützt nichts, wenn ich mir in der Apotheke mit einem Gutschein Masken abholen kann, das geht an der Lebensrealität vieler Menschen vorbei.

Die Pandemie ist in allen Lebensbereichen sehr belastend. Sind arme Menschen auch über das Medizinische hinaus stärker betroffen?
Ja, das geht alles Hand in Hand. Wenn zum Beispiel nicht genug Geld da ist, sich ausgewogen zu ernähren, belastet das die gesamte Lebensqualität. Armutsbedingte Nachteile zeigen sich während der Pandemie aber auch stark im Bereich der Bildung. Wenn eine ­Familie nicht für jedes Kind einen schultauglichen Laptop und Internetzugang zu Hause hat, können sie am digitalen Unterricht nicht teilnehmen. Ärmere Menschen wohnen zudem meist in beengten Wohnverhältnissen, was in der Pandemie eine große Belastung ist.

Sie haben 1997 den Verein »Armut und Gesundheit in Deutschland« gegründet, das ist jetzt 24 Jahre her. Was hat sich seitdem verändert?
Es ist alles schlimmer geworden. Es wird immer noch suggeriert, die sogenannte Agenda 2010 wäre für den wirtschaftlichen Aufschwung im Land mitverantwortlich gewesen. Von diesem profitierte aber nur ein Teil der Bevölkerung. Für einen anderen Teil war und ist sie eine Katastrophe. Sie hat dazu geführt, dass Armut in Deutschland zugenommen hat. Auch mit Blick auf die Gesundheit hat sich nichts verbessert. Das Gesundheitswesen wird immer mehr privatisiert, Menschen müssen immer mehr Leistungen selbst bezahlen. Das reicht von den Batterien für Hörgeräte über Sehhilfen bis hin zu ­Rezeptgebühren. Und das können sich viele Menschen einfach nicht leisten.

Warum unternehmen die politisch Verantwortlichen so wenig, um die Gesundheitssituation von armen Menschen zu verbessern?
Die meisten Berufspolitiker sind sehr weit weg von der Lebensrealität armer Menschen. Sie kommen oft aus gehobenen Verhältnissen und sind in ihrem Leben nie mit den Sorgen armer Menschen in Berührung gekommen. Ich spüre dort auch eine gewisse Arroganz armen Menschen gegenüber. Das Pro­blem liegt aber auch in unserem leistungsorientierten System. Ich glaube, dass das System einer kapitalistischen Demokratie eine Art Abschreckungs­signal braucht, das den Menschen sagt: »Wenn du nicht leistungsfähig bist, wenn du nicht funktionierst, dann wirst du mit Armut bestraft.« Deshalb stellen wir auch immer wieder fest, dass Ämter, Jobcenter und Krankenkassen nicht rechtskonform informieren und die Menschen nicht unterstützen, sondern mit Repression arbeiten.

Wie könnte man etwas an der Gesundheitssituation armer Menschen ändern?
Man müsste auf vielen Ebenen ansetzen. Es muss viel mehr in Gesundheitsförderung und Prävention investiert werden. Solche Angebote müssen an den Orten stattfinden, an denen die ­betroffenen Menschen leben. Außer­dem muss das Budget für Ernährung und Gesundheit in den Sozialleistungen wie Hartz IV erhöht werden. Wir brauchen auch eine grundsätzliche Veränderung in der Infrastruktur der Städte: mehr Grünflächen, mehr sozialen Wohnungsbau, mehr Naherholungsgebiete. Statt gesetzlicher und privater Krankenkassen brauchen wir eine Bürgerversicherung, bei der alle gleichermaßen eine gute medizinische Versorgung erhalten. Es darf nicht sein, dass Menschen notwendige me­dizinische Leistungen aus eigener Tasche bezahlen müssen.