Ein Gespräch mit dem Islam- und Wirtschafts­wissenschaftler Ahmad Omeirate über Clans und Kriminalität

»Wer Kritik übt, soll mundtot gemacht werden«

Seit einigen Jahren geistert das Schlagwort von der »Clankriminalität« durch Medien und Politik. Der Islam- und Wirtschaftswissenschaftler Ahmad A. Omeirate wuchs in Neukölln auf und hat selbst einen Nachnamen, der häufig mit der sogenannten Clankriminalität in Verbindung gebracht wird. Im Interview spricht er über Mythos und Wirklichkeit in der Clandebatte.
Interview Von

Am vorvergangenen Wochenende gab es in Berlin-Neukölln einen ­Polizeieinsatz zur Bekämpfung der sogenannten Clankriminalität. In der Woche davor hatte die Polizei das Haus einschlägig bekannter Mitglieder einer Familie durchsucht. Kaum eine Woche vergeht ohne ähnliche Meldungen aus dem Bezirk (Achtung, Araber). Sie sind dort aufgewachsen. Waren solche Dinge auch schon in Ihrer Kindheit und Jugend zu beobachten?

Als Kind hat man schon ziemlich früh mitbekommen, welche Familien in welche dubiosen Geschäfte verwickelt waren. Was man dabei wissen muss: Man hat uns als Flüchtlinge damals in heruntergekommenen Quartieren auf engstem Raum untergebracht. Man konnte den einschlägigen Leuten dort nicht aus dem Weg gehen, denn man kam aus demselben Land, hatte dasselbe Umfeld, sprach dieselbe Sprache, ging mit den Kindern der Eltern, die in kriminelle Dinge verwickelt waren, zur Schule. Es gab aber auch immer Eltern und Familienmitglieder, die versucht haben, die Kinder von solchen Leuten und Machenschaften fernzuhalten.

Das Schlagwort von der »Clankriminalität« ist in den Medien erst seit drei, vier Jahren richtig in Mode (Sippe und Sippenhaft). Mittlerweile findet man es auch in den aktu­ellen Wahlprogrammen von SPD, CDU und FDP in Berlin. Woher kommt diese gesteigerte Aufmerksamkeit für das Thema?

Der Islamwissenschaftler Ralph Ghadban, der sich schon in den Achtzigern und Neunzigern mit dem Thema beschäftigt hat, hat sehr nachdrücklich auf das Problem hingewiesen und es so in der Öffentlichkeit deutlich bekann­ter gemacht. Das Besondere an den ­libanesisch-arabischen Gruppen ist zudem ihr Drang, den öffentlichen Raum zu suchen. Clanmitglieder präsentieren sich auf Instagram und Facebook wie Marlon Brando in »Der Pate«. Sie sind auch Nutznießer der Schlagzeilen, mit denen sie sich im Milieu einen Ruf verschaffen. Das ist Marketing. Sie haben also selbst auch für größere Aufmerksamkeit gesorgt. Selbstdarstellung und aufsehenerregende Taten sollen ein Zeichen sein: Wir haben keine Hemmungen, wir machen alles. So kann man sich im kriminellen Milieu einen Namen machen, neue Kontakte knüpfen und Konkurrenten abschrecken. Allerdings fallen diese arabisch-libanesischen Kreise gelegentlich auch durch geradezu laienhafte Tathergänge öffentlich auf.

Mafiöse Vereinigungen zeichnen sich im Allgemeinen eher dadurch aus, die Geschäfte zu führen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Sind die kriminellen Clanmitglieder Stümper?

Wie dilettantisch sie vorgehen, hat beispielsweise 2017 der Raub der Goldmünze aus dem Berliner Bode-Museum gezeigt. Die Täter haben zwar große Schlagzeilen gemacht, wurden aber auch gefasst. Wenn man sich zum Vergleich die vietnamesische Mafia ansieht, die im Menschen- und Drogenhandel operiert, lässt sich feststellen, dass sie weit weniger öffentlich in Erscheinung tritt. Der Normalbürger ­bekommt da wenig mit.

»Das Besondere an den libanesisch-arabischen Gruppen ist ihr Drang, den öffentlichen Raum zu suchen. Clanmitglieder präsentieren sich auf Instagram und Facebook wie Marlon Brando in ›Der Pate‹.«

Der Raub im Berliner Kaufhaus des Westens im Jahr 2014 war eine weitere Sache: Da fuhren die Täter aus einer arabisch-libanesischen Großfamilie mit dem Auto vor, alles wurde von Überwachungskameras aufgezeichnet. Sie wurden gefasst. Ähnlich war es bei dem Überfall auf ein Casino in Berlin 2010. Die italienische Mafia fiel in Deutschland zuletzt 2007 mit den Morden vor einer Duisburger Pizzeria öffentlich auf. Seither herrscht Ruhe. Die betreffenden arabisch-libanesischen Familienmitglieder streben zwar dieselbe Machtposition an wie die italienischen und US-amerikanischen Vorbilder, gehen aber dilettantisch vor.

Der Begriff »Clankriminalität« ist umstritten. Thomas Fischer, ein ehemaliger Richter am Bundes­gerichtshof, weist darauf hin, dass es bei der Strafverfolgung um die rechtliche Bewertung von Taten Einzelner gehe. Es sei aus juristischer Sicht problematisch, wenn nicht eine Tat, sondern ein Mensch oder gar eine ganze Familie als kriminell bezeichnet werde. Im vergangenen Jahr forderte die Arbeitsgruppe Migration der Berliner SPD, den Begriff zu streichen, weil er »racial profiling« begünstige. Was halten Sie es von dem Begriff?

Ralph Ghadban hat ihn geprägt, um die kriminellen Aktivitäten von Familienmitgliedern zu bezeichnen, die tatsächlich im Kollektiv handeln. Es handelt sich allerdings nicht um exklusiv libanesisch-arabische Familienstrukturen. Ähnliches ist bei Migranten aus den Balkanstaaten, aus dem kurdischen Raum, aus der Türkei und anderen Ländern zu finden. Ich bin kein großer Freund des Begriffs, aber er umschreibt das Phänomen. Es gibt eben Familien, in denen manche Mitglieder zum kriminellen Milieu gehören. Diese prägen damit auch den Ruf des Familiennamens, nicht die Polizei oder die Innenminister.

Begünstigt der Begriff nicht eine diskriminierende Polizeiarbeit?

Die Polizeiarbeit hat ganz andere Schwerpunkte. Bei ihr geht es um das Prinzip »follow the money«, um die Aufklärung von Geldflüssen und um Ermittlungen gegen einzelne Personen, die mit diesen Geldbewegungen in Verbindung gebracht werden können. Für Außenstehende ist nur schwer zu erkennen, dass sich solche Ermittlungen nicht gegen eine ganze Familie richten, sondern gegen bestimmte Mitglieder, die für den kriminellen Ruf der Familie sorgen.

Es kommt aber sehr wohl zu falschen öffentlichen Verdächtigungen, Familiennamen werden öffentlich genannt und als kriminell gebrandmarkt. Es betätigen sich aber nicht alle Familienmitglieder kriminell. Und es ist für Laien, die sich mit diesen Familienstrukturen und -namen nicht auskennen, schwierig, überhaupt noch zu differenzieren. Für problematisch halte ich das Konzept der Clankriminalität etwa bei der Gruppe der Mhallamiye, um die es in den Medien zurzeit auch häufig geht. Bei ihnen ist dieses Familienkonstrukt nicht in dem Maß gegeben, wie es gern dargestellt wird. Mein Familienname Omeirate beispielsweise gilt als Name eines Clans. Da muss ich die Leute aber immer enttäuschen, das ist nicht der Fall. Es gibt zwar sehr viele Personen, die diesen Namen tragen. Das heißt aber nicht, dass wir alle miteinander verwandt wären.

So, wie nicht alle Müllers in Deutsch­land miteinander verwandt sind

Ja. Innerhalb der Gruppen der Müllers, Mayers und Schulzes gibt es Verwandtschaften. Aber es ist nicht jeder mit jedem verwandt.

Ralph Ghadban wurde nach Drohungen aus dem Milieu unter Polizeischutz gestellt. Ist den Clanmitgliedern also doch nicht jede öffentliche Aufmerksamkeit recht?

Ghadban hat sogar im arabischen Fernsehen ein Interview zum Thema gegeben. Wenn Clanmitglieder wahrnehmen, dass jemand aus den eigenen Reihen, vielleicht sogar mit demselben Nachnamen oder derselben Herkunft, Kritik übt, dann sind Repressalien zu befürchten. Solche Personen sollen mundtot gemacht und in der eigenen Community geächtet werden.

Die italienische Mafia gibt sich sehr katholisch und betreibt mancherorts einen eigenen Marienkult. Wie halten es die Mitglieder der einschlägigen Gruppen in Neukölln mit der Religion?

Sie spielt eine ähnliche Rolle wie bei der italienischen Mafia. Schließlich muss man sich ja irgendwie reinwaschen und Buße tun, etwa indem man Geld spendet. Der Islam ist ein wichtiger Bezug, man muss da aber unterscheiden, welcher Strömung die jeweiligen Familienmitglieder angehören. Im palästinensischen Milieu sind eher die Muslimbruderschaft und der Salafismus vertreten. Im libanesischen Milieu ist es eher die Hizbollah. Dass beispielsweise auch in der Muslimbruderschaft hierzulande bestimmte Clanstrukturen existieren, wird öffentlich bislang wenig beachtet.

Vertreten sich kriminell betätigende Clanmitglieder auch das politische Programm der Muslimbruderschaft und der Hizbollah, zu dem Antisemitismus, Homophobie und Hass auf Ungläubige gehören?

Antisemitismus gibt es auch im kriminellen Clanmilieu, und diese religiösen Instanzen spielen dabei eine entscheidende Rolle. Sie verbreiten ein ganz bestimmtes Islamverständnis, zu dem auch der Antisemitismus gehört. Das heißt nicht automatisch, dass alle Familienmitglieder antisemitisch sind. Aber das Gedankengut zirkuliert. Inte­ressant ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich manche dieser Kriminellen als die »neuen Juden« bezeichnen und polizeiliche Ermittlungen mit der antisemitischen Vernichtungs­politik der Nazis gleichsetzen.

 

Ahmad A. Omeirate ist Islam- und Wirtschaftswissenschaftler. Er ist in Berlin-Neukölln aufgewachsen und trägt einen Nachnamen, der häufig mit der sogenannten Clankriminalität in Verbindung gebracht wird. Derzeit forscht er zu Islamismus, Antisemitismus und organisierter Kriminalität.