In Frankreich sind die Proteste gegen den Gesundheitspass rechtsextrem dominiert

Antisemitische Nebenwirkungen

Der diffuse Protest gegen den Gesundheitspass und die Impfpolitik der französischen Regierung tendiert zu Antisemitismus und Wahnideen.

Selten war ein Teil der Linken in Frankreich so froh, dass eine soziale Bewegung – oder was manche aus ihren Reihen dafür hielten – sich im Niedergang befindet, zumindest relativ betrachtet. Am siebten Samstag in Folge gingen am Wochenende, wie das Innenministerium meldete, insgesamt noch rund 160 000 Menschen in über 200 französischen Städten auf die Straße, um ­gegen den pass sanitaire (Gesundheitspass) genannten Impf-, Test- oder Genesungsnachweis zu demonstrieren.

Am Samstag folgten in Paris rund 2500 dem Aufruf des linken Flügels der »Gelbwesten«. Auch auf dieser Demonstration gab es NS-verharmlosende Parolen zur Impfpolitik.

Seit Anfang August ist dieser Pass für den Zutritt zu vielen Veranstaltungsräumen, Gaststätten, Fernzügen oder Flugzeugen erforderlich. Am Montag wurde er auch für 1,8 Millionen abhängig Beschäftigte in Bereichen mit viel Publikumsverkehr zur Pflicht.

In dem diffusen Protest vermischt sich Kritik an dem pass sanitaire mit Ressentiments gegen das Impfen per se. In den vergangenen Jahrzehnten war es noch keiner Protestbewegung gelungen, über den Hochsommer hinweg, in den Wochen vom Nationalfeiertag am 14. Juli bis Ende August, kontinuierlich eine solche Anzahl von Personen zu mobilisieren. Das Maximum erreichten die Pass- und Impfgegner am 7. August: Knapp 240 000 Protestierende marschierten, nach amtlichen Angaben, an diesem Wochenende. An den darauffolgenden Wochenenden sank die Beteiligung. Doch ist eine Bewegung nicht zu unterschätzen, die in den Sommerferien, einer Periode, in der normalerweise zumindest in Paris und anderen städtischen Zentren der Politikbetrieb zum Stillstand kommt, Proteste dieses Ausmaßes aufrechterhalten kann.

Die buntscheckige Linke ist auch in ihrer Haltung zu dieser Bewegung zerstritten. Generell zeichnet sich ab, dass vor allem in Westfrankreich, in Städten wie Toulouse, linke oder gewerkschaftliche Präsenz die Demonstrationen stärker prägt. Gewerkschaftsorganisationen wie die CGT, die FO, die SUD und Vertretungen des Gesundheitspersonals wehren sich hauptsächlich gegen drohende Entlassungen von Beschäftigten, die keinen Impfnachweis erbringen können. Auch fürchten Linke, dass das Maß an Kontrollen in Frankreich zunimmt, wenn künftig beim Zutritt zu Zügen oder Restaurants die Gesundheitspässe vorgezeigt werden sollen. Um die Übereinstimmung zwischen diesem und den Ausweispapieren der jeweiligen Person zu überprüfen, muss gegebenenfalls die Polizei hinzugezogen werden; Gaststättenpersonal ist dazu nicht berechtigt. An Bahnhöfen dürfte die Polizei daher Dauerpräsenz zeigen, während bei Restaurants eher damit zu rechnen ist, dass der Abgleich mit dem Ausweis oftmals unterbleibt.

In Ost- und vor allem in Südfrankreich prägt oftmals die extreme Rechte die Proteste entscheidend. In der Hafenstadt Toulon beispielsweise waren Sprechchöre zu hören, die die Vorsitzende des Rassemblement national (RN), Marine Le Pen, danach fragten, wo sie denn bleibe.

Die Präsidentschaftskandidatin der stärksten rechtsextremen Partei hält sich allerdings politisch bedeckt – aus guten Gründen. Sie versucht, sowohl dem breiten bürgerlich-konservativen Lager, das den Demonstrationen eher mit Unverständnis gegenübersteht, als auch einem aufgeheizten, jedoch gesellschaftlich minoritären Protestmilieu entgegenzukommen. 33 bis 37 Prozent der Befragten unterstützten Umfragen zufolge den Pass- und Impfprotest; soziale Bewegungen etwa in Gestalt von Streiks zur Verteidigung der Renten konnten meistens mit Zweidrittelmehrheiten rechnen.

So übernahm die außerparlamentarische extreme Rechte die Organisation der Demonstrationen, während sich Parteiapparat und Führungsperso­nal des RN zurückhielten. An die Spitze der Bewegung setzte sich Florian Philippot, der im September 2017 geschasste frühere Chefideologe des Front National (FN), der Vorläuferpartei des RN. Philippot beharrte damals darauf, den Austritt aus der Europäischen Union als Programmpunkt beizubehalten, die Parteiführung strich aber wegen der Wahlniederlage im Mai 2017 diese auch in der rechten Wählerschaft eher unpopuläre Forderung aus dem Programm.

Philippot zählt zu jenen, die keinen traditionalistischen, beispielsweise katholischen Hintergrund ­haben, und gilt wegen seiner Homosexualität in diesen Kreisen als anrüchig. Doch zieht es auch Menschen ­dieses Milieus nunmehr auf die von Philippot geleiteten Demonstrationen. In Paris läuft Philippot seit Juli an den Samstagnachmittagen jeweils an der Spitze der mit rund 10 000 Personen größten von drei bis vier getrennten Demonstrationen gegen die Coronapolitik der Regierung. In deren Reihen sieht man jedoch viele rechtskatholische Symbole wie etwa das »Vendée-Herz«, ein seit 1794 existierendes konterrevolutionäres Symbol. Ein Teilnehmer merkte gegenüber der Jungle World an, Philippot sei zwar ein Homosexueller, habe jedoch bei dem Thema »echt Eier in der Hose, mehr als mancher Heterosexuelle, etwa diese Hurensöhne von Abgeordneten«. Offensichtlich gelang es diesen Demonstrationen, eine Art Einheit unterschiedlicher rechter Strömungen zumindest an der Basis zu schaffen. Stets mit dabei ist auch eine chinesische religiöse Sekte, die die Zeitung Epoch Times herausgibt und Beziehungen zur US-amerikanischen Politsekte Qanon unterhält.

Seine frühere Partei setzte sich von Philippot ab; ihr Sprecher Laurent Jacobelli kritisierte in Fernseh-Talkshows etwa, er rufe zum Boykott von Restaurants auf, die den Impfpass kontrollieren: Die Gewerbetreibenden hätten es doch schon schwer genug in dieser Situation. Dadurch versucht die Partei, sich ein moderates Image zu geben. Nicht wenige ihrer Mitglieder und Sympathisanten dürften allerdings beim Protest mitlaufen. Die Bürgermeister in den vom RN geführten Rathäusern von Fréjus, Beaucaire (Gard) und Béziers ordneten an, die Kommunalpolizei solle die Impfpässe im Stadtgebiet nicht kontrollieren.

Was der RN in der Öffentlichkeit so nicht als Kritikpunkt benennen kann, was aber tatsächlich hervorsticht, sind die antisemitische Motive eines Teils der Protestierenden. In einem Editorial warnte Le Monde bereits vor dem »Gift der Banalisierung« des Antisemitismus: Gelbe Sterne und auf den Unterarm gemalte Nummern in Anspielung auf die in die KZ Deportierten finden sich auf den Demonstrationen, eine Stele zur Erinnerung an die Holocaust-Überlebende und Politikerin Simone Veil in der Bretagne wurde in einer Woche dreimal mit faschistischen Symbolen beschmiert. Und sind es nicht jüdische Strippenzieher, die »das französische Volk« vergiften wollen, in diesem Falle mit Impfstoff? Diese Botschaft wird in den vergangenen Wochen vermehrt durch entsprechende Andeutungen übermittelt. Ihre Überbringer schreiben einfach »Aber wer?« auf ihre Schilder – dies in Bezug auf eine Fernsehdebatte, bei der ein Abgeordneter der Regierungspartei LREM ungläubig mehrfach nachfragte: »Wer? Aber wer?« sei gemeint, als der General im Ruhestand, Dominique Delawarde, gesagt hatte, »die Gemeinschaft, die Sie gut kennen«, kontrolliere die Medien in der Welt; Delawarde gehört zu den rechtsextremen Generälen, die der französischen Regierung im April mit einem Putsch gedroht hatten.

Eine Demonstrantin, die inzwischen vom Dienst beurlaubte Deutschlehrerin Cassandre Fristot, ein ehemaliges Mitglied des FN, machte als Erste durch die Aufschrift auf einem Schild »Aber wer?« in Metz auf sich aufmerksam. Gegen sie soll am 8. September in Ostfrankreich vor Gericht wegen »Aufstachelung zum Rassenhass« verhandelt werden.

Zudem hat das Auftreten rechter Demonstranten offenbar auch auf vermeintlich linke Aufzüge abgefärbt. Am Samstag liefen in Paris 10 000 Menschen hinter Philippot her, rund 2 500 folgten dem Aufruf des linken Flügels der »Gelbwesten«. Auch dort gab es NS-verharmlosende Parolen zur Impfpolitik, ebenso waren vereinzelte »Vendée-Herzen« und ein Transparent von Philippots Kleinpartei Les Patriotes mit der Aufschrift »Befreien wir Frankreich!« zu sehen, von dem lediglich der Parteiname abgetrennt worden war. Und die »Freiheit, Freiheit!«-Rufe waren die gleichen. Vom angekündigten »gewerkschaftlichen Block« war jedoch nichts zu sehen.

Camille*,der an einem Pariser Bahnhof arbeitet und Mitglied der linken Basisgewerkschaft SUD-Schienenverkehr ist, bezeichnete am Sonntag gegenüber der Jungle World seine als relativ radikal geltende Gewerkschaft als gespalten in der Frage der Pass- und Impfproteste. Manche ihrer Mitglieder zeigten sich aus Widerspruchsgeist ­heraus für diesen Protesten aufgeschlossener als die Durchschnittsbeschäftigten, meinte er. Dabei seien die Lager ähnlich wie 2014, als man darüber diskutierte, ob der von dem Antisemiten Dieudonné M’bala M’bala popularisierte quenelle-Gruß zu verurteilen sei oder eine »Provokation gegen das System« darstelle: Politisch bewusste Linke, die letztere Ansicht scharf ablehnten, stünden jüngeren Mitgliedern gegenüber, die in ihrer Sehnsucht nach Radikalität von derlei Symbolik angezogen würden. Nichtorganisierte Beschäftigte hätten hingegen ihre Widerstände gegen das Impfen aufgegeben, als sie erfahren hätten, dass sie ungeimpft nicht mehr nach Disneyland dürften. Camille sagt, er wäre froh, wenn die gegenwärtigen Proteste ihrem Ende entgegengingen.

* Name von der Redaktion geändert.