Das Regierungsprogramm bietet ­abhängigen Beschäftigten so gut wie nichts

Schröders Erben

Weiterhin prekäre Arbeitsverhältnisse, Flexibilisierung der Arbeits­zeit, geringere Rentenerhöhungen – für abhängig Beschäftigte hat die Koalition aus SPD, Grünen und FDP wenig Positives zu bieten.

»Mehr Fortschritt wagen« – unter diesem Titel stellten SPD, Grüne und FDP vorige Woche ihren Koalitionsvertrag vor. Kaum ein Kommentar kommt daher ohne eine Bezugnahme auf die ­sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt (1969–1974) und dessen Motto »Mehr Demokratie ­wagen« aus.

Der Vertrag legt allerdings andere historische Vergleiche nahe. In der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik knüpft die Koalition an die von der rot-grünen Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (1998–2005) beschlossenen Einschnitte bei sozialen Sicherungssystemen und die in dessen Amtszeit vorgenommene Deregulierung des Arbeitsmarkts an. Damals wurden sozialpolitische Errungenschaften – wie Einschränkungen für Zeitarbeit und die Trennung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe – abgeschafft, jetzt gilt es aus Sicht der Koalitionäre offenbar, die seinerzeit herbeigeführten Verhält­nisse zu optimieren und effizienter zu nutzen.

Bei den Tageshöchstarbeitszeiten sollen nach dem Willen von SPD, Grünen und FDP künftig gesetzliche Regelungen per Tarifvertrag um­­­­gangen werden können.

Die Koalition will den von der rot-grünen Koalition geschaffenen Niedriglohnsektor ausbauen. Geringfügige ­Beschäftigung soll durch die Anhebung der Geringfügigkeitsgrenze von 450 auf 520 Euro ausgeweitet werden. Bereits in den vergangenen Jahren erlebten die sogenannten Minijobs einen regelrechten Boom. Rund sieben Millionen Menschen waren 2019 gering­fügig beschäftigt. In der Covid-19-Pandemie sank die Zahl der Minijobber zwar kurzzeitig auf rund sechs Millionen, inzwischen ist sie jedoch wieder deutlich gestiegen.

Für Lohnabhängige hat die gering­fügige Beschäftigung erhebliche negative Folgen. Viele zahlen nicht in die Renten- und Sozialversicherung ein, gegen Arbeitslosigkeit sind geringfügig Beschäftigte nicht versichert. Daher kann für sie auch kein Kurzarbeitergeld beantragt werden, denn dieses stellt eine Leistung der Arbeitslosenversicherung dar.

Die Koalition bekennt sich klar zur Beibehaltung anderer prekärer Beschäftigungsformen. Weder die sachgrundlose Befristung von Arbeits­verhältnissen noch Werkverträge und Leiharbeit will man abschaffen oder auch nur stärker regulieren. Leiharbeit und Werkverträge werden als »notwendige Instrumente« bezeichnet. Einzig gegen »strukturelle und systema­tische Verstöße gegen Arbeitsrecht und Arbeitsschutz« will man im Rahmen des geltenden Rechts »effektiver« vorgehen – als sei das nicht selbstverständlich.

Auch bei der Grundsicherung wollen die Koalitionäre wenig ändern. Das ­Arbeitslosengeld II, umgangssprachlich Hartz IV, soll künftig »Bürgergeld« heißen. Ein Ende der Gängelung Erwerbsloser und eine substantielle Erhöhung der Regelsätze sind nicht vorgesehen. Für »Sanktionen unter das Existenzminimum« soll es bis zur Neuregelung der Sanktionen, die nach einem Urteil des Bundesverfassungsgericht bis Ende kommenden Jahres erfolgen soll, ein Moratorium geben; dabei gilt der Hartz-IV-Regelsatz selbst schon als Mindestsicherung des Lebensunterhalts. Zudem soll die aus der Schule bekannte Kopfnote Einzug ins Hartz-IV-System halten: Erwerbslose sollen sich einem »Kompetenzfeststellungsverfahren« unterziehen, das auch sogenannte soft skills »zertifizierbar« machen soll. Die vorgesehenen kleinen Korrekturen, etwa großzügigere Regelungen bei der Angemessenheit der Wohnung sowie bei der Höhe von Zuverdiensten und des Schonvermögens, dienen wohl der effektiveren Gestaltung des bishe­rigen Systems.

Das gilt wahrscheinlich auch für das zentrale Wahlkampfversprechen der SPD, das auch Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hat: die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde. Viele – auch Befürworter der Hartz-Reformen – betrachteten das Fehlen einer Lohnuntergrenze als einen Konstruktionsfehler des Systems. Die Erosion des Lohnniveaus ging so weit, dass das Ziel, die Zahl der Erwerbstätigen zu erhöhen, um die ­Sozialkassen zu entlasten, konterkariert wurde, da selbst manche Vollzeitbeschäftigte ihre Löhne durch die Grund­sicherung aufstocken lassen mussten. 2014 behob eine Koalition aus SPD und Union dieses Problem weit­gehend, indem sie das Mindestlohngesetz verab­schiedete.

Die jetzt vorgesehene Anhebung des Mindestlohns fordern Gewerkschaften und Sozialverbände zwar seit Jahren, mit zwölf Euro bleibt der Mindestlohn jedoch ein Armutslohn. Wer 40 Erwerbsjahre lang 38,5 Stunden pro Woche gearbeitet hat, muss nach Berechnungen der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung inflationsbereinigt durchschnittlich mindestens 13,45 Euro pro Stunde verdient haben, um Renten­ansprüche oberhalb der Grundsicherung zu erwerben.

Die von der Ampelkoalition geplante Flexibilisierung der Arbeitszeit zöge eine weitere Deregulierung der Beschäftigungsverhältnisse nach sich. Bei den Tageshöchstarbeitszeiten sollen künftig gesetzliche Regelungen umgangen werden können, allerdings nur auf Basis eines Tarifvertrags. Dieser Tarifvorbehalt wird, wie ähnliche Regelungen in der Vergangenheit zum Beispiel bei der Leiharbeit gezeigt haben, jedoch kaum verhindern, dass die gewünschte Flexibilisierung immer mehr Lohn­abhängige treffen wird.

Das Rentenniveau soll stabil bleiben und der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen; von einer Bürgerversicherung, in die auch Beamte, ­Selbständige und Freiberufler einbezogen würden, wie sie SPD und Grüne im Wahlkampf gefordert hatten, ist allerdings keine Rede mehr. Stattdessen wurde mit der Aktienrente der Einstieg in die kapitalgedeckte Rente vereinbart, die vielen Experten als Schritt zur weiteren Privatisierung der Alters­vorsorge gilt. Zudem will die Koalition schon 2022 aus Gründen der »Generationengerechtigkeit« den sogenannten Nachholfaktor in der Rentenberechnung wieder in Kraft setzen, was zu geringeren Rentenerhöhungen führen würde.

Großer Widerstand gegen die Pläne der Koalition ist nicht in Sicht. Die Linkspartei ist nach ihrer Wahlniederlage zerstrittener als je zuvor und in der öffentlichen Debatte derzeit weitgehend bedeutungslos. Dass auch von den Gewerkschaften kaum etwas gegen weitere Prekarisierung und Umverteilung zu Lasten der Beschäftigten unternehmen dürften, zeigt die erste Stellungnahme des DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann zum Koalitionsvertrag, die einer Kapitulationserklärung gleichkommt. Darin begrüßt er den »politischen Aufbruch, den das neue Bündnis verspricht«. »Viele Themen in Richtung eines sozial-ökologischen Wandels werden richtig adressiert«, so Hoffmann weiter. Dass der Koalitionsvertrag entgegen den Wahlkampffor­derungen von SPD und Grünen keine Vermögensteuer, keinen höheren ­Spitzensteuersatz und keine Reform der Erbschaftsteuer vorsieht, ist für Hoffmann eine »zentrale Schwachstelle«, die schlicht »mutig durch gutes Regieren korrigiert werden sollte«.