Sie nennen es Schreiben
Carolin Amlingers Studie ist ein Meilenstein der Kultursoziologie, ihre Bedeutung für Menschen, die im literarischen Betrieb ihr Auskommen finden, egal ob im Bereich der Produktion, Distribution oder Rezeption, ist kaum zu überschätzen. Die Literatursoziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Basel bezieht sich in dem bei Suhrkamp erschienenen Buch »Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit« auf Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Felds. Der französische Soziologe und Philosoph beschreibt damit die Macht- und Positionskämpfe auf dem Terrain der Literatur und untersuchte dafür die Interaktionen verschiedener Akteure (Autoren, Kritiker, Verleger). Ausgespart blieben dabei aber die konkreten Arbeitsprozesse der Literaten. Diese Lücke sucht Amlinger nun mit ihrem Buch zu schließen.
Im ersten Teil der Studie untersucht Amlinger die Geschichte des »ästhetischen Wirtschaftens« und beschreibt, wie im Deutschen Reich ein literarischer Markt entstehen konnte.
Schreiben versteht sie als »eine Praxis, deren Zweck ihr Vollzug ist«. Es umfasst nicht nur die konkrete Niederschrift eines literarischen Werks, sondern beinhaltet ein ganzes Ensemble sozialer Praktiken: zunächst einmal den Akt ästhetischer Schöpfung selbst, der sich in der Aufnahme von literarischen Traditionen oder der bewussten Abgrenzung davon vollzieht; auch den Konkurrenzkampf der Autoren untereinander. Ein wichtiger Faktor ist die Urheberschaft, die zugleich das Neue, die creatio ex nihilo, für sich reklamiert; ein weiterer ist die Autonomie der literarischen Praktiken. Beide zusammen machen das nicht zu Standardisierende, das Unkalkulierbare des Schreibens und seiner Existenzbedingungen aus und führen zugleich zu einer Entgrenzung von Arbeit und Leben. Eingebettet ist die literarische Arbeit in ein spezifisches Produktionssystem, das von dem impliziten Widerspruch geprägt ist, dass »Literatur eine Ware (ist) und gleichzeitig doch keine«. Diese Dialektik zwischen Kunst und Ökonomie, die wie eine Aporie wirkt, ist eine der bedeutendsten Eigentümlichkeiten des Literaturbetriebs.
Die Literatur- und Verlagsgeschichte hat immer wieder neue Wege gesucht, mit diesem Widerspruch umzugehen, wie Amlinger aufzeigt. Ob Autorinnen und Autoren ihr Schreiben mit ihrem Lebensentwurf zusammenbringen können, hängt maßgeblich davon ab, ob sie dieses Spannungsverhältnis für sich produktiv machen können. Denn es ist ja nicht so, als dominierten die Ökonomie und der Warencharakter die Literatur vollständig. »Auch der Markt ist auf die ästhetischen Wertvorstellungen angewiesen, sie garantieren sein wirtschaftliches Funktionieren«, schreibt Amlinger. Ohne Erfindung kein Tausch, beide hängen stark voneinander ab, was auch an einer weiteren Eigentümlichkeit des literarischen Betriebs liegt, auf die Amlinger hinweist: »Autor:innen bringen nicht nur ein literarisches Werk, sondern in actu fortlaufend auch das literarische Feld hervor, in dem sie sich bewegen.«
Im ersten Teil der Studie untersucht Amlinger die Geschichte des »ästhetischen Wirtschaftens« und beschreibt, wie im Deutschen Reich ein literarischer Markt entstehen konnte. Die literarische Moderne der Jahre 1871 bis 1918 lässt den Schriftstellerberuf im Deutschen Reich aufkommen; neben dem professionellen Schreiber, der erfolgreich genug ist, um von seiner Arbeit leben zu können, bildet sich ein Schriftstellerproletariat heraus. Als Nächstes studiert Amlinger die tiefgreifenden Veränderungen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Literaturbetrieb der Bundesrepublik von 1948 bis 1990 ergaben. Dabei berücksichtigt sie die Entwicklung des Verlagswesens, den Gegensatz von Massenkultur und Gegenöffentlichkeit und das gewachsene Selbstbewusstsein der Schriftsteller, das in Heinrich Bölls Rede vom »Ende der Bescheidenheit« anlässlich der Gründung des Verbands deutscher Schriftsteller 1969 kulminierte. Unter der Überschrift »Literatur zwischen Boom und Krise« betrachtet Amlinger schließlich die Literaturwirtschaft seit 1990, wobei die durchgreifende neoliberale Umgestaltung des Buchmarkts ebenso Erwähnung findet wie die Effekte der Digitalisierung mit der Einführung von E-Books und forciertem Selfpublishing.
Der historische Überblick über die jeweiligen Literatursysteme liest sich hochinteressant, auch weil das Buch durchgehend in einem klaren Stil gehalten ist, der weder durch ein Übermaß an Fachterminologie noch durch pseudopoetische Blumigkeit zu beeindrucken versucht. Die Quellenfülle, auf die Amlinger sich stützt, ist eindrucksvoll, das Literaturverzeichnis allein umfasst 64 Seiten. Das belegt eine mehr als solide Datenbasis.
Der zweite und der dritte Teil des Buchs sind das Ergebnis eigener Feldforschungen zu Selbstbild und Existenzbedingungen von Schriftstellern in der Gegenwart. Amlinger hat dazu sieben Autorinnen und elf Autoren über ihre spezifischen Berufserfahrungen und -einstellungen befragt und deren Antworten anonymisiert. Besondere Berücksichtigung finden die Themen berufliches Selbstverständnis, Arbeitsbedingungen und Regulative (etwa das Urheberrecht), der Literaturbetrieb und seine impliziten Regeln, die Bedeutung bestimmter Institutionen (Literaturförderung und -preise), Lesungen, Festivals und Literaturkritik. Nicht zuletzt geht es darum, wie die konkrete Schreibpraxis eigentlich aussieht und welche »sozialen Praktiken« damit verbunden sind.
Im dritten und letzten Teil geht es unter der Überschrift »Ästhetische Positionierungen« um Autorschaft und Autonomie. Autorschaft definiert Amlinger als »normativen Selbstentwurf (…), der durch literarische Arbeitspraktiken gestiftet wird und im literarischen Werk zur Materialität gerinnt«. Es geht also um die Frage, was einen Autor ausmacht und ab wann man Autor ist. Welche Formen von äußerer Anerkennung und Selbstinszenierung spielen hier eine Rolle?
Amlinger betont die Bedeutung der Autonomie der Literatur und sieht diese zugleich gefährdet. Ohnehin ist das Postulat der künstlerischen Autonomie ein Relikt der ästhetischen Moderne, das die historischen Avantgardebewegungen längst zerpflückt haben. Allerdings meint der Begriff der Autonomie nicht zuletzt auch die künstlerische Freiheit des Schreibenden. In diesem Sinne verteidigt Amlinger Handlungs- und Gestaltungsspielräume innerhalb der Grenzen, in denen sich kreative Tätigkeiten zwangsläufig bewegen.
Carolin Amlinger: Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit. Suhrkamp, Berlin 2021, 800 Seiten, 32 Euro