Über »Mental Health« wird viel gesprochen, gegen Depressionen hilft das nicht

Viel Awareness, keine Besserung

Unter dem Stichwort »Mental Health« wird heute aufgeklärter denn je über psychische Erkrankungen informiert und diskutiert. Diejenigen, die am häufigsten betroffen sind, erreicht Hilfe aber nur schwer. Und so manche Erkenntnis soll lieber verborgen bleiben.

Es geht einem nicht gut, aber immerhin redet man darüber: So in etwa ließe sich der Diskurs über psychische Gesundheit zurzeit zusammenfassen. »Mental Health« hat nicht nur die Popkultur, sondern auch viele Medien, vor allem die sozialen, erreicht. Podcasts widmen sich den seelischen Verstimmungen von Personen des öffentlichen Lebens, Ich-Texte und ­Videoformate zum jeden Mai stattfindenden »Mental Health Awareness Month« sollen enttabuisieren. Auch der Arbeitgeber, die Krankenkassen oder sogar die Bundesregierung bieten Programme zur Vorbeugung psychischer Krisen an.

Offener und verletzlicher, so heißt es, sprechen viele heute über psychische Erkrankungen. Das helfe den Betroffenen, die dadurch Mut finden könnten, sich weniger allein fühlten, entstigmatisiert würden. Ist das so?

Geschichten von verzweifelten Arbeitslosen und vereinsamten Senioren erreichen die Öffentlichkeit selten.

Der Zusammenhang zwischen Klassenherkunft und der psychischen Verfassung ist erforscht, wenngleich nicht so gut, wie man meinen könnte. Ein Artikel in der wissenschaftlichen Zeitschrift Public Health Forum aus dem Jahr 2014 hält fest: »Studien zum Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status und der psychischen Gesundheit sind hierzulande vergleichsweise selten.« Psychische Erkrankungen betreffen vor allem Arme, Arbeitslose und Menschen oberhalb des mittleren Alters – die genannte Studie deutet auf eine statistische Häufung in der Altersgruppe 45 bis 64 hin.

Auch das Geschlecht spielt eine Rolle: Dem Statistischem Bundesamt zufolge werden etwa 75 Prozent der Suizide in Deutschland von Männern begangen, die mit dem Suizid häufig in Verbindung stehenden psychischen Krankheiten – etwa die Depression – werden aber häufiger bei Frauen diagnostiziert. Ein Grund für die Diskrepanz liegt darin, dass Männer seltener therapeutische Hilfe suchen, sondern den brutalen Ausweg wählen, der keiner ist. Die frohe Botschaft, dass nun jeder verletzlich sein darf und psychische Probleme offen thematisiert werden können, scheint nicht jeden gleichermaßen zu erreichen. Zudem erreichen Geschichten von verzweifelten Arbeitslosen und vereinsamten Senioren die Öffentlichkeit nur selten.

Noch etwas fällt auf: Der Mental-Health-Diskurs beschränkt sich oft auf Depressionen und Angststörungen, zwei der häufigsten psychischen Erkrankungen überhaupt – und jene, mit denen sich wortwörtlich vergleichsweise »gut arbeiten« lässt, die sich oft gut behandeln lassen und die in milden Ausprägungen eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erlauben. Weniger gut handhabbare psychische Erkrankungen wie die paranoide Schizophrenie werden im »Mental Health Awareness Month« nicht so gern thematisiert. Allenfalls dürfen sich die Betroffenen noch anhören, dass sie »tox­isch« (sprich: eine geradezu gemeingefährliche Zumutung) seien, wenn Selbstfürsorge und Atemübungen den Terror im Kopf nicht aufhalten können.

»Unsichtbar«, wie es oft heißt, sind diese Phänomene keineswegs. Jede Großstadt kennt ihre öffentlich herumirrenden »Verrückten«, die von der Restgesellschaft gemieden werden und für die allenfalls die Straße, der sozialpsychiatrische Dienst oder die Psychiatrie vorgesehen sind. Erinnert sei auch daran, dass immer wieder einzelne Erkrankte getötet werden – wie etwa Maria B., die 2020 in ihrer Berliner Wohnung von vier Polizisten gestellt und erschossen wurde, oder der junge Mann, den 2013 am Berliner Neptunbrunnen ein ähnliches Schicksal ereilte. Beide, so die Polizei später, hätten im entscheidenden Moment eine akute Bedrohung dargestellt. Beide galten als »verwirrt« oder »psychisch labil«.

Das Wissen über psychische Krankheiten ist mittlerweile groß – und dennoch wird man immer dümmer. Über 14 Millionen Bücher der vergangenen 125 Jahre untersuchte ein Forscherteam jüngst auf Formulierungen, die »kognitive Verzerrungen« zum Ausdruck bringen, zum Beispiel, wenn über sich selbst äußerst negativ gesprochen wird (»I’m a ­loser«). Die Autorinnen und Autoren der Studie sehen bei der häufigen Verwendung solcher Formulierungen in Anlehnung an die kognitive Verhaltensforschung eine Depression am Werk. Sie stellten fest: Die Verwendung solcher Vokabeln und Formulierungen habe enorm zugenommen und übersteige sogar die Niveaus aus den Zeiten der Great Depression in den USA oder der beiden Weltkriege. »Dieses Muster scheint nicht von Veränderungen in der Wortbedeutung, in Schreib- und Veröffentlichungsstandards oder der Google-Books-Stichprobe motiviert zu sein. Unsere Ergebnisse suggerieren einen zeitlich jüngeren gesellschaftlichen Wandel hin zu einer Sprache, die mit kognitiven Verzerrungen und verinnerlichten Störungen assoziiert wird«, so die Studie. Die Forscher deuteten an, dass sich in der Gesellschaft ein großes Unwohlsein abspiele, das sogar noch größer sei als zu Zeiten extremer ökonomischer Verwerfungen oder weltumfassender Kriege.

Passend dazu erschienen im November die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe in Zusammenarbeit mit der Deutsche-Bahn-Stiftung unter dem Titel »Deutschland-Barometer Depression 2021« und dem Schwerpunktthema »Depression und Arbeitswelt«. Von den befragten Beschäftigten gaben 20 Prozent an, bereits einmal die Diagnose Depression erhalten zu haben. Weitere 19 Prozent vermuteten, schon einmal an einer Depression erkrankt gewesen zu sein, ohne eine Diagnose erhalten zu haben. So weit der ganz normale Wahnsinn.

Nun wird es interessant: Zwar gab eine überwältigende Mehrheit aller Befragten an, dass Belastungen am Arbeitsplatz (95 Prozent), Konflikte ebendort (93 Prozent) und dauerhafte Erreichbarkeit (83 Prozent) ihrer Meinung nach zu den wichtigsten Ursachen von Depressionen gehörten, die Autoren der Studie schlossen angesichts dieser Ergebnisse allerdings auf Unwissen: Die Befragten würden verkennen, dass Depressionen biologische Ursachen haben können, in welchem Fall die angegebenen vermeintlichen Ursachen sich eher als Symptome der Erkrankung darstellen würden. »Während der Depression nehmen Betroffene alles wie durch eine dunkle Brille wahr und fühlen sich völlig erschöpft und durch die Arbeit überfordert«, argumentierte Prof. Dr. Ulrich Hegerl, der Vorsitzende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe.

Vielleicht ist alles auch gar nicht so schlimm, wenn man nur nicht so genau hinschaut. Die Bundesregierung jedenfalls empfiehlt systematische Verdrängung, um psychische Krisen in Pandemiezeiten zu verhindern: »Vermeiden Sie es, sich übermäßig mit verunsichernden Nachrichten über die Coronavirus-Pandemie zu beschäftigen«, schlägt die vom Staat finanzierte Präventionskampagne »Zusammen gegen Corona« vor.

Es sind nur Schlaglichter, aber sie sind vielsagend: In dieser speziellen Kombination aus Wissen und Nichtwissenwollen erscheint der moderne Mental-Health-Diskurs selbst als ein wenig wahnsinnig. Die junge Politikerin Noreen Thiel, Mitglied der FDP-Jugendorganisation Junge Liberale, wollte im vergangenen Wahlkampf auf psychische Erkrankungen aufmerksam machen. Ein lobenswerter Schritt, vor allem in einer Jugendorganisation, die über die Belasteten in der Gesellschaft sehr ungern spricht. Thiel erkannte richtig, dass Millionen Menschen in Deutschland an einer Depression erkrankt sind und die Dunkelziffer »wahrscheinlich wesentlich höher liegt«. Ihr Vorschlag: »Aufklärung und Awareness« fördern und vor allem die »Bezahlung und Arbeitsbedingungen in Kliniken« verbessern sowie den »bürokratischen Aufwand für praktizierende Therapeuten« reduzieren. Wichtig ist vor allem, dass die traurigen Massen schnell und unbürokratisch ihre Behandlung ­bekommen, damit sie bald wieder ackern können.

»Gerade wir Freie Demokraten stehen wie keine andere Partei dafür, dass der eigene Antrieb einen überall hinbringen sollte«, heißt es auf Thiels Homepage nur einen Absatz darüber. Gesund ist also, wer genug »eigenen Antrieb« aufbringt, um ­erfolgreich zu sein; wer nicht, braucht Therapie. Um zu verkennen, dass der von Wirtschaftsliberalen angebetete »freie« Markt zwingend Verlierer – und damit auch enorme psychische Belastungen – produziert, bedarf es einer beeindruckenden ideologischen Verdrängungsleistung.

Diese Herangehens- und Deutungsweisen sind symptomatisch für eine Gesellschaft, die nicht sehen möchte, dass sie eventuell bereits ungesund eingerichtet ist und noch aktiv darauf hinarbeitet, für immer mehr Menschen kaum noch erträglich zu sein, mit oder ohne Covid-19-Pandemie. Arbeitgeber und Krankenkassen bieten Training zur Stressreduktion an – doch gerade Beschäftigte im Niedriglohnsektor sowie Arbeitslose, Alleinerziehende oder Menschen ohne Krankenversicherung erreicht das nicht. Der harmlos klingende Ausdruck »kognitive Verzerrung«, die lieblich tönende »Awareness« und die allgemeine »Verunsicherung«, die von Nachrichten (!) ausgehe – sie bergen ein Problem. Sie verschleiern den Blick auf das, was passiert. Und sie sollen diejenigen, die sich nicht so gut in die kranke Welt integrieren lassen, als bedauerliche Unfälle erscheinen lassen, die ein besser justierter Betrieb bald vermeiden werde – oder als tragische Opfer eines unabwendbaren biologischen Schicksals.

»Kapitalistischer Realismus besteht darauf, die psychische Verfasstheit wie eine Naturgewalt zu behandeln«, schrieb Mark Fisher. Biologische Ursachen, kognitive Verzerrungen – die psychisch Kranken sind falsch oder denken falsch, keinesfalls jedoch werden sie von einer falschen Gesellschaft hervorgebracht, so der bewusste oder unbewusste Tenor vieler Mental-Health-Advokaten. Das neue Bewusstsein für psychische Krankheiten mag ein gutes Ziel vor Augen haben, kann dieses aber ohne Klassenbegriff und Gesellschaftsanalyse nur verfehlen. Die Folge sind Hilfsangebote, die nur wenige erreichen, Erkenntnisse, die dümmer machen, und Sozialtechniken, die von den Überlasteten noch mehr verlangen.