In Eisenach prägt rechte Gewalt seit Jahren den Alltag

Die braune Mitte Deutschlands

Eisenach ist das Zentrum rechtsextremer Umtriebe in Thüringen. In der kommenden Woche beginnt die Beweisaufnahme in zwei Fällen von Angriffen auf Eisenacher Neonazis, die einer antifaschistischen Gruppe um Lina E. vorgeworfen werden.

Eisenach, die Stadt der Wartburg, Unesco-Weltkulturerbe und Wirkungsstätte von Martin Luther. Viele Touristen kommen in »Deutschlands grüne Mitte«, wie es in der Eigenwerbung der Stadt heißt. Aber nicht alle fühlen sich hier wohl, wie ein Kommentar auf dem Reiseportal Tripadvisor von 2018 zeigt: »The whole town is full of Nazi-Graffiti (…) Stay away until this is a safer place.« Tatsächlich prägen Schriftzüge wie »NS-Zone« oder »Nazi Kiez« das Stadtbild, die schon seit Jahren als Hochburg der extrem rechten Szene Thüringens gilt.

Ab der kommenden Woche wird das auch beim Verfahren gegen die Antifaschistin Lina E. und drei Mitangeklagte wegen Bildung einer »linksextremistischen« kriminellen Vereinigung am Oberlandgericht Dresden Thema sein. Dann beginnt die Beweisaufnahme in zwei Fällen von Angriffen auf Eisenacher Neonazis, die der Gruppe vorgeworfen werden. Der Anklage zufolge soll die Gruppe zunächst im Oktober 2019 mit bis zu 15 Leuten die extrem rechte Szenekneipe »Bull’s Eye« gestürmt, anwesende Gäste verprügelt und Teile des Inventars zerstört haben. Zwei Monate später soll die Gruppe dann den Betreiber der Gaststätte, Leon R., nachts vor seiner Haustür abgefangen und angegriffen haben. Dabei wurden auch mehrere Begleiter von Leon R. verletzt und ihr Auto demoliert. Mit den Taten in Eisenach begannen die Ermittlungen nach Paragraph 129 Strafgesetzbuch, in deren Zuge weitere Angriffe auf Neonazis in und um Leipzig der Gruppe angelastet wurden.

Offenbar herrscht in Eisenach ein gutes politisches Klima für gewaltbereite Neonazis mit dem Hang, terroristische Strukturen zu bilden.

Mit ihren gewaltsamen Aktionen, so der Vorwurf der Bundesanwaltschaft, hätten die Angeklagten den Weg des friedlichen Meinungsaustauschs verlassen und an den »Grundpfeilern des Rechtsstaats gerüttelt«. Die Taten trügen zur Radikalisierung der Gesellschaft bei und besäßen daher »eine den Gesamtstaat betreffende Bedeutung«, wie Bundesanwalt Bodo Vogler bei der Verlesung der Anklageschrift zu Prozessbeginn im September vergangenen Jahres erklärte.

Ein Blick auf die Zustände in Eisenach zeigt jedoch, dass nicht durch die militanten antifaschistischen Aktionen der »friedliche Meinungsaustausch« beendet wurde, sondern dass schon seit Jahren rechte Gewalt den Alltag in der Stadt prägt. Das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) in Jena hat vergangenes Jahr eigens eine Studie zum »Rechtsextremismus in Eisenach« herausgebracht. Darin ist die Rede von einem »hohen Aktionsniveau von gewaltbereiten und gewalttätigen Rechtsextremen, die organisatorisch und personell vor Ort etabliert sind«. Zahlen des Thüringer Innenministeriums bestätigen das: Für 2019 werden 73 rechtsextreme Veranstaltungen gelistet.

Zu den wichtigsten Treffpunkten der rechten Szene gehört das angegriffene »Bull’s Eye« sowie die örtliche NPD-Zentrale »Flieder Volkshaus«. Die Umgebung dieser Orte seien »Angstzonen« für alle potentiellen Opfer, sagte Jennifer Rieck, eine der Autorinnen der IDZ-Studie, dem Online-Portal Belltower News. Dass die Angst nicht unberechtigt ist, zeigt auch die polizeiliche Statistik: Die »politisch motivierte Kriminalität rechts« hat für die Jahre 2014 bis 2019 mit 8,3 Fällen pro 1 000 Einwohner in Eisenach den mit Abstand höchsten Wert in Thüringen, der Landesdurchschnitt liegt bei 3,7.

Auch in einem weiteren Punkt sticht Eisenach hervor. Die NPD, die sich seit dem Aufstieg der AfD fast überall im Niedergang befindet, konnte in der 40 000-Einwohnerstadt 2019 bei den Stadtratswahlen 10,2 Prozent der Stimmen erlangen, ein Zuwachs von 2,8 Prozentpunkten im Vergleich zu den Wahlen 2014. Die AfD kam nur auf 11,7 Prozent, während sie thüringenweit 17,7 Prozent der Stimmen erhielt. Der Fraktionsvorsitzende der Eisenacher NPD und zugleich der bekannteste Neonazi der Stadt ist Patrick Wieschke. Er ist schon seit den neunziger Jahren aktiv und saß unter anderem bereits wegen Anstiftung zur Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion im Gefängnis. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen dieses politischen Lebenslaufs wurde er 2019 erneut in den Stadtrat gewählt.

Offenbar herrscht in der Stadt ein gutes politisches Klima für gewaltbereite Neonazis mit dem Hang, terroristische Strukturen zu bilden. Als der damalige Bundesinnenminister, Horst Seehofer (CSU), im Januar 2020 die international agierende rechtsterroristische Gruppe »Combat 18« verbot, kam es auch in Eisenach zu einer Hausdurchsuchung. Betroffen war Stanley R., der als einer der führenden Köpfe von »Combat 18« gilt und erst kurz zuvor aus Nordhessen in die thüringische Stadt gezogen war.

Auch Leon R., der angegriffene Betreiber des »Bull’s Eye«, ist ein international vernetzter Neonazi-Kader. Recherchen der Antifaschistischen Gruppen Südthüringen (AGST) zufolge nahm er an faschistischen Treffen in Warschau und in der Ukraine teil, darüber hinaus soll er Kontakte zur rechtsterroristischen Gruppe »Atomwaffendivision« (AWD), die in den USA für mehrere Attentate und Morde verantwortlich ist, gepflegt haben. Er soll sogar an der Erstellung eines Propagandavideos des deutschen Ablegers von AWD beteiligt gewesen sein, wie ein Rechercheteam von ZDF und T-Online 2020 herausfand. In dem Internetforum »Iron March«, einer internationalen »Brutstätte von Neonazi-Terrorgruppen« (T-Online), habe Leon R. unter Pseudonym geschrieben: »Deutschland ist meine Religion, Hitler ist mein Prophet.« In Eisenach war Leon R. Mitglied des mittlerweile aufgelösten »Nationalen Aufbaus« und ist in der rechten Kampfsportgruppe »Knockout 51« aktiv. Der thüringische Verfassungsschutz berichtet, dass die rechten Eisenacher Kampfsportler 2019 an Schießübungen in Tschechien teilgenommen haben. Mit dabei auf dem »Tschechienfeldzug«, wie die Nazis ihren Ausflug nannten: Leon R. und Stanley R.

Die starke und gewaltbereite extrem rechte Szene der Stadt stellt längst nicht nur für Linke sowie Migrantinnen und Migranten eine Gefahr dar, wie vor einem Jahr bei einer Sitzung des Stadtrats deutlich wurde. Die Abgeordneten von AfD und NPD hatten entgegen den geltenden Pandemievorschriften während der Sitzung ihre Masken abgesetzt. Zu ihrer Unterstützung hatten sich weitere Aktivisten aus dem rechten Milieu auf den Besucherplätzen eingefunden, ebenfalls ohne Masken. Letztlich wurde die Sitzung wegen der Aktion abgebrochen, die vier NPD-Abgeordneten und ihre Unterstützer weigerten sich trotz Aufforderung, den Saal zu verlassen. Ein deutliches Beispiel der rechten Raumnahme und des weiter wachsenden Selbstbewusstseins der rechten Szene in der Stadt. Das IDZ schreibt in seiner Studie von »bedenklichen Geländegewinnen«, einer »problematischen Normalisierung« und »gewaltsamen Auswirkungen des ,verstetigten‘ Rechtsextremismus in der Wartburgstadt«.

Doch weiterhin gelten oft diejenigen, die versuchen, dem entgegenzuwirken, als die eigentlichen Störenfriede. Bisweilen nimmt das absurde Züge an: Im Herbst 2019 wurde eine Frau vom Eisenacher Amtsgericht in erster Instanz verurteilt, weil sie einen »NS-Zone«-Schriftzug mit einem Herz übermalt hatte. Das Oberlandgericht Jena hob das Urteil später auf. Auch der alljährliche »Burschentag« des völkischen Dachverbands »Deutsche Burschenschaft« der rechten Studentenverbindungen, der traditionell in Eisenach abgehalten wird, wurde nie als Problem gesehen, sondern stets nur die Proteste dagegen. Und als die antifaschistische Kampagne »Irgendwo in Deutschland« im März 2019 in Eisenach mit einer Demonstration auf die rechte Gewalt und den »bür­gerlichen Konsens des Schweigens und Verharmlosens« aufmerksam machen wollte, titelte die Bild-Zeitung im Vorfeld: »Chaoten wollen Eisenach stürmen«. Die Mär von dem eigentlich friedlichen Wartburgstädtchen, das erst durch Antifaschistinnen von Gewalt heimgesucht werde, verbreitet auch die Bundesanwaltschaft, wenn sie die Taten der Gruppe um Lina E. als Bedrohung des Rechtsstaats darstellt, ohne sie in den Kontext der Eisenacher Zustände zu setzen. Denn dort hat die rechte Gewalt längst den Rechtsstaat ausgehebelt.