Die Berlinale findet dieses Jahr in Präsenz statt

Die 72. Berlinale: Schniefen, Husten, Heiserkeit

Die 72. Berliner Filmfestspiele wollen dem Coronavirus trotzen und bieten Präsenzveranstaltungen. Das gefällt nicht allen.

Warum einfach, wenn es auch im Kino geht: Bei den 72. Internationalen Filmfestspielen Berlin, die vom 10. bis 20. Februar stattfinden werden – davon die letzten vier Tage fürs Publikum –, versteht man sich als Retterin der Präsenzveranstaltung, ja der gesamten Kinokultur. Der Praxis, Festivalfilme zu streamen, wie es bei anderen Filmfestivals in den vergangenen zwei Jahren der Fall war wurde, erteilt man eine klare Absage. Es sei denn, es geht ums Geschäft: Der European Film Market, die an die Berlinale angeschlossene Filmbörse, findet ­ausschließlich digital statt. Eine Programmpressekonferenz gab man auch lieber digital, wegen steigender Inzidenzen, jetzt habe man ja auch die Omikron-Variante, wie die Berlinale-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek erwähnte.

Einen Film im Kinosaal anzuschauen, »das Atmen, Lachen und Geflüster der anderen zu hören«, meint der Festivalleiter Chatrian, trage nicht nur zum Sehvergnügen bei, es stärke auch die gesellschaftliche Funktion des Kinos.

Die Zahl der Ansteckungen mit der Omikron-Variante des Virus – wiewohl manche Länder sie der Gefährlichkeit nach mittlerweile der saisonalen Grippe gleichstellen – ist in Deutschland recht hoch, im Zentrum Berlins schlägt sie besonders aus und für Mitte Februar wird noch ein Anstieg prognostiziert. Da fragt sich mancher Kritiker, ob das so sinnvoll ist mit dem Sitzen im Kino.

»Standhaft bleiben«, heißt die Devise des Berlinale-Leiters Carlo Chatrian: »Es geht nicht darum, einen modus operandi (in Präsenz) gegen einen anderen (online) durchzusetzen, sondern darum, als Beschützer*in eines Raums in Erscheinung zu ­treten.« Es soll auch einfach so schön sein wie vor Corona – sogar ein bisschen roter Teppich ist eingeplant, vielleicht mit der neuen Kulturstaats­ministerin Claudia Roth darauf –, der Name legt es nahe. Filmpromis ­hingegen werden wohl gar nicht kommen.

Einen Film in einem Kinosaal anzuschauen, »das Atmen, Lachen und Geflüster der anderen zu hören«, meint Chatrian, trage nicht nur entscheidend zum Sehvergnügen bei, es stärke auch die gesellschaftliche Funktion des Kinos. Nein, tut es nicht, befand etwa die Filmkritikerin Sophie Charlotte Rieger: Die Berlinale verweigere sich elitär dem digitalen und damit gesundheitsförderlichen Zugang. Außerdem sei das Konzept frauen- beziehungsweise alleinerziehendenfeindlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass im Februar viele, wenn nicht alle Kitas schließen, sei hoch. Wie solle die Kritikerin da teilnehmen? Rieger: »In meinen Augen verstößt dieser Ausschluss gegen den Gleichheitsanspruch im Grundgesetz. Zugang zum Beruf des Filmjournalismus haben gesunde kinderlose Menschen und Männer, deren Part­nerin die Kinder versorgt. Alle anderen nicht.«

»Wie im falschen Film« wähnte sich auch die Zeit-Redakteurin Wenke Husmann. Präsenzveranstaltungen im Kino seien nicht nur unverantwortlich, sondern auch »gestrig«. Womöglich stehe das weltgrößte Publikumsfilmfestival vor dem Aus. Der Verleiher Torsten Frehse verurteilte Kritik als »hetzerisch«. Seit zwei Jahren seien die Konzepte fürs Kino gut erprobt, er riet: »Dann bleiben Sie doch einfach zu Hause!«

Nun wurden viele andere Veranstaltungen abgesagt, die Berlinale nicht. Auch wenn die Sicherheit mit dem 2G-plus-Test-plus-Maske-Modell relativ hoch sein dürfte, hatte die Berlinale im Februar doch seit jeher eine spezifisch erkältungsbedingte Akustik. Schniefen, Husten, Heiserkeit: Wer sich Anfang des Jahres mit 1 200 anderen Zuschauern zwölf Stunden am Tag in den Kinosaal setzte, kam selten unangesteckt raus.

Die Filmkritiker registrieren das, oftmals mit einem schlechten Gefühl. Aber auch ihr Verband veranstaltet gleichzeitig wie gewohnt ihr Festival »Woche der Kritik« in Präsenz. Das soll ohnehin als Generaldebatte über die Berlinale und den Film an sich verstanden werden. Den Slogans der Filmwirtschaft und Politik (»Mehr Fortschritt wagen«) und der Sinnkrise unter Coronabedingungen sowie unabhängig von diesen stellt man sich mit einer großen Einstiegs­konferenz.

Wer es dann in die über die ganze Stadt verteilten Berlinale-Säle mit ihrem Chatrian’schen »Atmen, Lachen, Reden im Kino« schafft – hä, war da nicht was mit Aerosolen? – und die Institution Kino damit »vor dem Aussterben bewahrt«, findet folgende Fakten vor, wenn er denn Karten ­ergattert: 18 Filme gehen im Wettbewerb an den Start, Produktionen aus 15 Ländern sind vertreten, 17 der Filme werden als Weltpremiere gezeigt, bei sieben Filmen haben Frauen Regie geführt. Den Goldenen Ehrenbären fürs Lebenswerk bekommt Isabelle Huppert. In acht weiteren Sek­tionen laufen über 200 Filme.

Die Eröffnung bestreitet Berlinale-Dauergast François Ozon mit einer Interpretation von Rainer Werner Fassbinders »Die bitteren Tränen der Petra von Kant« von 1972, Titel: »Peter von Kant«. Eine eher heitere Angelegenheit, »die Leichtigkeit und Schwung in unseren trüben Alltag bringt«, wie es beim Festival heißt. Kann man gebrauchen.

Die Filme der 72. Berlinale sollen eine treffende Beschreibung der Welt in ihrem derzeitigen veränderten Zustand liefern. Soweit man das bisher überblicken kann, gibt es jedoch nicht wirklich viele Werke, in denen dieses Corona, von dem immer alle reden, Thema wäre. Hin und wieder ein Mundschutz im Gesicht eines Schauspielers, eine Retrospek­tive mit Seuchenfilmen sucht man vergebens. Wenigstens »Die Maske« oder »Zorro«?

Nein, dieses Jahr ehrt man Mae West, Rosalind Russell und Carole Lombard als »No Angels«. Alte Filme sind auf der großen Leinwand immer toll anzuschauen. Und die drei »bieten dem heutigen Publikum auch im Hinblick auf aktuelle Fragen Antworten«. Aha, welche denn? »Sie erörtern zeitlose Themen wie die Vereinbarkeit von Liebe, Karriere und Partnerschaft und nehmen dabei auch Bezug auf ihre Sexualität«, erläutert Retrospektive-Leiter Rainer Rother.

In der etwas freieren Reihe »Encounters« laufen 15 Filme als Welt­premieren, von Leuten wie Bertrand Bonello, Ruth Beckermann, Mitra ­Farahani oder Peter Strickland. Die Sektion »Forum« besucht man, wenn man Zeit und Raum vergessen will, weil ihre Filme sich gern jeder geläufigen Seherfahrung widersetzen. Premiere feiert hier »Europe«, der erste Spielfilm von Philip Scheffner, der bislang für experimentelle Dokumentarfilme bekannt war. Er handelt von der Bushaltestelle gleichen Namens am Rande einer fran­zösischen Stadt. Es geht darin um die die Sicht- und Unsichtbarkeit von Zugewanderten, denen Bürokratie und Verwaltung das Leben schwer machen. Gesellschaftskritik mit langen Einstellungen.

In der Jugendreihe »Generation« ist »Alis« von Clare Weiskopf und ­Nicolas van Hemelryck zu empfehlen. Der Film beginnt Berlinale-typisch recht schleppend, dann aber benennt er die Schrecklichkeiten, mit denen Frauen in Kolumbien aufwachsen. Zehn junge Frauen in einem Auffangheim berichten in einer etwas statischen Anordnung am Beispiel ihrer fiktiven Freundin Alis, mit welchen Widerständen ihr Leben bisher gepflastert war. Starkes und bewegendes Kino!

Superstarkes und superbewegendes Kino bietet die Sektion »Panorama« mit »Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod«: Der Regisseur Cem Kaya hat eine dermaßen mitreißende Dokumentation über 60 Jahre migrantische Alternativkultur gedreht, dass es hoffentlich nur beim Atmen und Flüstern im Kino bleibt. Tempo, Drive, Geschwindigkeit, Rasanz, Hochdruck: eine Filmgeschichte der türkisch-deutschen Bundesrepu­blik, wie es sie wohl noch nicht gegeben hat – und die wie das Langvideo zur gerade von İmran Ayata und Bülent Kullukcu herausgegebenen Kompilation »Songs of Gastarbeiter Vol. 2« wirkt (wobei die CD musikalisch weiter ausholt). Nicht nur ein irrer Musikfilm über Musik, sondern auch über Geschichte von unten: über das Leben der Arbeitsmigranten der fünfziger Jahre, über Streiks bei Opel für gleiche Bezahlung in den Siebzigern und über musikalische und kulturelle Reaktionen auf den Ausländerhass bis in die neunziger Jahre hin zum zeitgenössischen HipHop. Alles ohne Maske.

Die Berlinale findet an unterschiedlichen Orten in Berlin vom 10. bis zum 20. Februar statt.