Das polizeiliche Dunkelfeld
Die Liste der Vorwürfe gegen Alexander M. ist lang. 85 Taten werden dem 54jährigen Berliner vorgeworfen, darunter Beleidigung, Nötigung, Bedrohung, Volksverhetzung und ein Verstoß gegen das Waffengesetz. Den Kern des Verfahrens, das am 16. Februar am Landgericht Frankfurt begonnen hat, bilden 116 Drohschreiben, die M. zwischen Sommer 2018 und Frühjahr 2021 unter dem Pseudonym »NSU 2.0« verschickt haben soll. Sie waren vor allem an Frauen des öffentlichen Lebens gerichtet, darunter die Politikerinnen der Linkspartei Janine Wissler, Martina Renner und Anne Helm, die Kabarettistin İdil Baydar, Hengameh Yaghoobifarah sowie der Anwalt Mehmet Daimagüler und die Anwältin Seda Başay-Yıldız, die beim Prozess gegen die Nazi-Terrorgruppe NSU Nebenkläger vertraten.
Die Drohserie begann am 2. August 2018, als Seda Başay-Yıldız ein Fax erhielt, in dem sie rassistisch beleidigt und ihr gedroht wurde, man werde ihre Tochter »als Vergeltung schlachten«. Besonders bedrohlich war dabei, dass das Schreiben – im Gegensatz zu den Drohbriefen, die Başay-Yıldız nach eigenen Angaben vorher regelmäßig erhielt – den Namen ihrer Tochter und ihre Meldeadresse nannte. Der Verfasser der Drohschreiben verfügte über persönliche Daten, teils sogar solche, die gegen unbefugte Zugriffe eigentlich besonders geschützt sein sollten. Die Auswirkungen, die diese besondere Bedrohung auf ihr Leben hatte, schilderte Başay-Yıldız am Montag vor Gericht: Sie habe ihr Leben einschränken müssen, auch beruflich. Zu Hause habe sie Sicherheitstechnik für 50 000 Euro installieren müssen, erst nach langen Kämpfen habe das Land Hessen die Kosten übernommen.
Gegen die Version der »NSU 2.0«-Ermittler spricht der Umfang der Abfrage: Es wurden 17 umfangreiche Datensätze abgerufen. Dass dies rein telefonisch abgelaufen sein soll, erscheint nicht sehr plausibel.
Im Lauf der Ermittlungen stellte sich heraus, dass die Daten von Başay-Yıldız kurz vor der Versendung des Drohschreibens mehrfach im 1. Frankfurter Polizeirevier abgefragt worden waren. Als das Handy der Beamtin, unter deren Kennung die Abfragen vorgenommen wurden, durchsucht wurde, entdeckten die Ermittler eine rechtsextreme Chatgruppe von Polizeibeamten des ersten Reviers. Başay-Yıldız traf es nicht allein, auch Drohschreiben an andere Betroffene enthielten persönliche Daten und auch in diesen Fällen war es zu entsprechenden Abfragen auf Polizeicomputern gekommen.
Es stand deshalb der Verdacht im Raum, dass Polizeibeamte an den Drohschreiben beteiligt gewesen sein könnten. Der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) verlautbarte im Oktober, dass dieser Verdacht mit der Anklage gegen M. erledigt sei. Hessische Polizeibeamte seien an den »NSU 2.0«-Drohschreiben nicht beteiligt gewesen.
Die Sachlage ist jedoch keineswegs so klar, wie Beuth es darstellte. Eine Beteiligung der Frankfurter Beamten ließ sich zwar bislang nicht nachweisen, allerdings ist nach wie vor ungeklärt, weshalb sonst die Daten von Başay-Yıldız unmittelbar vor dem Versenden des ersten Drohfaxes abgerufen worden sind. Die Ermittler gehen davon aus, dass M. im Revier angerufen und sich als Behördenmitarbeiter ausgegeben habe. So habe er die Beamten dazu gebracht, die Daten für ihn abzurufen.
Wieso aber sollte die Polizei per Telefon persönliche Daten herausgeben und weshalb wurde die Datenabfrage ausgerechnet unter der Kennung jener Polizistin vorgenommen, auf deren Handy später die revierinterne rechtsextreme Chatgruppe entdeckt wurde? Gegen die Version der Ermittler spricht zudem der Umfang der Abfrage: Wie die Taz berichtete, wurden am 2. August 2018 insgesamt 17 Mal umfangreiche Datensätze über Başay-Yıldız und ihre Familie aus drei unterschiedlichen Datenbanken abgerufen. Dass dies rein telefonisch abgelaufen sein soll, erscheint nicht sehr plausibel.
M., der im Prozess jähzornig und unbeherrscht auftritt, behauptet indes, dass er weder die Drohschreiben abgeschickt habe noch rechtsextrem sei. Am zweiten Tag des Verfahrens am vorigen Donnerstag berichtete er von einem Forum im Darknet, in das er 2019 eingeladen und aus dem er im Sommer 2020 wieder ausgeschlossen worden sei. Dort seien die wahren Täter aktiv gewesen. Sie hätten in dem Forum die Drohschreiben abgestimmt, die M. vor Gericht als »schäbiges Verhalten« bezeichnete. An dem Forum seien auch Polizeibeamte beteiligt gewesen, was sich daran gezeigt habe, dass dort Polizei-Interna ausgetauscht worden seien. Ihm seien auch die Namen einzelner Mitglieder bekannt, die er jedoch nicht nennen wolle, um sich nicht in Gefahr zu bringen.
Die Nebenklagevertretung hielt diese Ausführungen für wenig glaubwürdig. M.s Version der Geschehnisse nutze gezielt die Ermittlungslücken aus, die dadurch entstanden seien, dass man sich auf ihn als Einzeltäter festgelegt habe. Dass der Tatkomplex »NSU 2.0« und seine Zusammenhänge nicht befriedigend aufgeklärt seien, hatten Seda Başay-Yıldız, İdil Baydar, Anne Helm, Martina Renner, Janine Wissler und Hengameh Yaghoobifarah in einer gemeinsamen Presseerklärung vom 14. Februar nicht zum ersten Mal kritisiert. In dem Verfahren müsse endlich geklärt werden, wie die Daten zu M. hätten gelangen können und ob es Verbindungen zwischen ihm und Polizeibeamten gegeben habe. Auch müsse genauer untersucht werden, ob es einen Zusammenhang zu anderen Drohserien der vergangenen Jahre gebe. Unklar sei zudem, wie gefährlich M. tatsächlich sei. Bei dessen Festnahme am 3. Mai in Berlin wurde in seiner Wohnung eine Schusswaffe gefunden.
Dass die Netzwerke, die rechtsextreme Täter unterstützten, nicht ausreichend aufgeklärt werden, hat mittlerweile Tradition. Schon beim NSU-Prozess in München hatte die Bundesanwaltschaft sich auf die sogenannte Trio-These festgelegt, wonach der NSU lediglich aus drei Personen bestanden habe. Auch bei den Attentaten von Halle und Hanau oder der Ermordung Walter Lübckes wurden immer wieder die analogen und digitalen Netzwerke übergangen, die die Täter ideologisch und logistisch unterstützt haben. Es steht zu befürchten, dass sich dieses Muster im Verfahren um die »NSU 2.0«-Drohschreiben wiederholt.