Putin nimmt keine Rücksicht mehr auf die Interessen seiner Oligarchen

Im Alleingang

Der russische Präsident Wladimir Putin fordert bedingungslose Gefolgschaft und macht deutlich, dass er keine Rücksicht mehr auf die Interessen der Oligarchen nimmt. Das birgt Risiken.

Die imperiale Machtinszenierung deutete es bereits vor dem Beginn der Invasion an. Die Mitglieder des russischen Sicherheitsrats saßen am 21. Februar unter der gewaltigen Kuppel des Katharinensaals im Kreml vor dem Schreibtisch Präsident Wladimir Putins, der einen nach dem anderen vortreten ließ, um Zustimmung zu seiner Entscheidung zu bekunden, die »Volksrepubliken« in der Ostukraine anzuerkennen. Eine solche rituelle Erniedrigung des Führungspersonals ist auch in Autokratien ungewöhnlich, schließlich birgt sie die Gefahr, den Respekt – oder die Angst – der Bevölkerung vor den Amtsträgern des Regimes zu mindern. Doch war ­Putin offenbar die Botschaft wichtiger: Der Staat bin ich.

Mit der Invasion der Ukraine ist Putin wohl möglicherweise einen Schritt zu weit gegangen, denn sie droht, dem von ihm aufgebauten Herrschaftssystem die Grundlage zu entziehen.

Der russische Machtapparat galt bislang als komplexes Geflecht diverser Interessengruppen, die sich im Wesentlichen zwei Blöcken zuordnen ließen: den sogenannten Oligarchen, die sich in den neunziger Jahren ein Milliardenvermögen verschafft hatten, und ehemaligen sowjetischen Funktionären. Putins Macht beruht vornehmlich darauf, dass er die Oligarchen unter Kontrolle brachte, durch exemplarische Bestrafung, aber vor allem durch die Platzierung verbündeter Funktionäre in Führungsgremien ihrer Unternehmen. Eben jene Funktionäre versammelte er am 24. Februar, dem Tag des Beginns der Invasion, ebenfalls im Katharinensaal wie zuvor den Sicherheitsrat zum Befehlsempfang.

Offenbar wollte Putin vorbeugend klarstellen, dass er fortan keine Rücksicht mehr auf die Interessen der Oligarchen zu nehmen gedenkt und bedingungslosen Gehorsam fordert. Loyalität war unter Putins Herrschaft immer wichtiger als Produktivität, die Verteilung von Pfründen sicherte ihm die Unterstützung der Oligarchen für eine Außenpolitik, die der US-Historiker ­Timothy Snyder (»The Road to Unfreedom«, 2018) als strategic relativism bezeichnet. Putin gehe es nicht darum, mehr zu gewinnen als andere, sondern weniger zu verlieren als sie. »Russland kann nicht stärker werden, also muss es andere schwächen. Der einfachste Weg ist, sie Russland ähnlicher zu machen.«

Mit der Invasion der Ukraine ist Putin aber möglicherweise einen Schritt zu weit gegangen, denn sie droht, dem von ihm aufgebauten Herrschaftssystem die Grundlage zu entziehen. Russland dürfte nun mehr verlieren als andere. Westliche Konzerne wie BP und Shell trennen sich von ihren Beteiligungen an der russischen Energiewirtschaft. Wenngleich noch unklar ist, ob Kohle und Atomkraft oder erneuerbare Energien den Ersatz bilden sollen, ist doch fast unumstritten, dass die Abkoppelung westlicher Staaten von der Lieferung fossiler Brennstoffe aus Russland schneller vorangetrieben werden soll als bislang geplant. Das Geld, das Putin in den Einkauf europäischer Politiker – der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder war nur der prominenteste, nicht der einzige – als ­Lobbyisten investiert hat, muss abgeschrieben werden.

Probleme gibt es auch mit den Bündnispartnern und Sympathisanten. Zur Entscheidung gezwungen, hält der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán nun doch lieber die EU-Disziplin und trägt die Sanktionen gegen Russland mit. Anführer der extremen Rechten wie Marine Le Pen und Éric Zemmour sehen sich zu einer Verurteilung der Ukraine-Invasion genötigt. Ähnlich reagieren bisherige Verteidiger Putins in der Linken. Diese ist für Putins Kalkül relativ unbedeutend, relevant ist jedoch die Reaktion der sogenannten Zivilgesellschaft nicht zuletzt in Deutschland, wo etwa Fridays for Future nun »Stand with Ukraine« postet. Putin hat es geschafft, die Zögerlichen, Zweifelnden und Desinteressierten davon zu überzeugen, dass er eine Gefahr ist.

Eben dies könnte seine neue Strategie sein. Der russische Präsident hat wegen »aggressiver Stellungnahmen« seitens der Nato und verhängter Sank­tionen eine erhöhte Alarmbereitschaft der Atomstreitkräfte an­geordnet. Po­litische Zugeständnisse lassen sich so vielleicht erzwingen, für die Erneuerung der Geschäftsbeziehungen mit dem Westen ist diese Drohung wohl nicht das geeignete Mittel.

Beunruhigend ist, dass niemand weiß, wie hoch das Risiko ist, das Putin einzugehen gedenkt. Darüber dürfte man sich derzeit auch in der russischen Führungsschicht Gedanken machen. Einen Anspruch auf Alleinherrschaft zu stellen, bedeutet nicht, ihn auch durchsetzen zu können. Kurzfristig kann nur eine Palastrevolte Putin entmachten, die Einschüchterung des Führungspersonals deutet darauf hin, dass er in dieser Hinsicht besorgt ist. Eine reichhaltige Auswahl an erprobten Giften stünde entschlossenen Geheimdienstlern schließlich zur Verfügung.