Frankreich will trotz Pannen, hoher Kosten und Gefahren die Atomkraft ausbauen

Schwache Atomkraft

Die meisten Präsidentschaftskandidaten in Frankreich befürworten einen Ausbau der Atomenergie im Land. Doch gibt es bereits jetzt zahlreiche Pannen und Verzögerungen beim Bau des EPR in Flamanville.

Es bleibt für Frankreich nur zu hoffen, dass diesen Frühling keine extreme Kältewelle mehr folgt wie 2018, als Mitte März mehrere Tage hindurch auch zur Mittagszeit Minustemperaturen gemessen wurden. Sollte wegen des russischen Aggressionskriegs in der Ukraine auch die Gasversorgung verknappt oder verteuert werden, könnte es für die Energieversorgung Frankreichs vorübergehend eng werden. ­Algerien bot dem Land allerdings am Wochenende an, bei Ausfällen einzuspringen.

Zumindest bei der Stromversorgung hat Frankreich normalerweise keine Probleme, sorgt doch der enorme Atomenergiepark des Landes nach offiziellen Angaben für Unabhängigkeit in der Energieversorgung, jedenfalls wenn man die Herkunft des Urans dabei nicht berücksichtigt. »Wir haben kein Öl, aber wir haben Ideen«, lautete der Slogan einer Werbekampagne der Regierung Mitte der siebziger Jahre infolge des damaligen ersten Rohölpreisschocks.

Bei vier Reaktoren, darunter den beiden leistungsstärksten des Landes, wurden unerwartete Korrosions­schäden an den Rohr­leitungen gefunden.

Auch Präsident Emmanuel Macron scheint dieser Devise zu folgen. Die Regierung will bis zu 14 neue Atomreaktoren vom Typ EPR bauen und innerhalb der kommenden 20 Jahre in Betrieb nehmen. Dem ehemaligen Aufsichtsratspräsidenten des Stromversorgers RTE, André Merlin, ist das nicht genug. In einem Interview mit der Wirtschaftszeitung La Tribune vom 16. Februar forderte er: »Es bräuchte 50 neue EPR von jetzt bis 2060, ein Szenario mit 100 Prozent erneuerbaren Energien ist nicht realistisch.«

Er kritisierte das von seinen Nachfolgern bei RTE ausgearbeitete und im Oktober vorgelegte Szenario »Futurs énergétiques 2050«, das Macron und mehrere andere Kandidaten für die französische Präsidentschaftswahl im April zur Grundlage ihrer Vorschläge für die Energiepolitik gemacht haben, als »ideologisch«. Dieses sieht vor, die bisher ausreichende Strommenge bis 2050 aus erneuerbaren Energien herzustellen; Atomenergie brauche es den Verfassern zufolge allerdings trotzdem, da der Bedarf unter anderem durch die Umstellung auf Elektrofahrzeuge steigen werde. Der Atomstromanteil soll allerdings von derzeit zwischen 65 und 70 Prozent pro Jahr auf dann maximal die Hälfte sinken. Merlin sieht dagegen eine noch verstärkte Nutzung der Atomkraft als einzig taugliches Szenario.

Doch nun das: Die Fertigstellung des einzigen bislang in Frankreich im Bau befindlichen EPR im normannischen Flamanville soll sich weiter verzögern, wie in der zweiten Januarwoche bekannt wurde. Das staatliche Unternehmen Électricité de France (EDF) – von dem vor rund 20 Jahren RTE abgetrennt worden war, um das Unternehmen für private Investoren zu öffnen – war an der Errichtung zweier Reaktoren dieses Typs im chinesischen Taishan beteiligt. Diese waren bereits in Betrieb, nach Störfällen wurden sie aber im Juni 2021 abgeschaltet. Daraufhin waren im November bei Tests »anormale Vi­brationen« festgestellt worden, die das Vorliegen eines Konzeptionsfehlers nahelegten.

In Flamanville wurden Probleme an den Schweißnähten im inneren Druckbehälter festgestellt, der völlig über­arbeitet werden musste. Ursprünglich hätte die Anlage 2012 fertiggestellt werden sollen, nach mehreren Verschiebungen sollte es in diesem Jahr so weit sein. Nun ist von einer Inbetriebnahme im zweiten Halbjahr 2023 die Rede. Die reine Bauzeit würde damit 16 Jahre überschreiten.

Eine Ursache dafür ist, dass Frankreich wegen Einsparungen und Outsourcing gar nicht mehr über die Kapazitäten an Ingenieuren verfügt, die beim Aufbau des gigantischen Nuklearprogramms in den siebziger Jahren ­herangezogen wurden. Die anfänglich auf drei Milliarden Euro veranschlagten Kosten für den französischen EPR werden nun offiziell bei 12,7 Milliarden angesiedelt. Kritiker wie der Präsidentschaftskandidat Yannick Jadot von den Grünen sehen sie längst bei 20 Milliarden Euro.

Jadot behauptet, selbst wenn eine künftige Regierung es wolle, könnten die geplanten Reaktorbauten nicht bis 2045 entstehen. Deswegen seien die Atompläne auch zur Einhaltung der Klimaziele Frankreichs für die kommenden Jahrzehnte, entgegen der Regierungspropaganda, von vornherein untauglich. Doch selbst Jadot ist vorsichtig, wenn es darum geht, die in Frankreich starke Atomlobby anzugehen. Keinen einzigen Reaktorblock werde er im Falle seiner Wahl in seiner Amtszeit bis 2027 stilllegen, sagte Jadot im Januar während einer Fernsehdebatte; so kurzfristig plane man das nicht. Erst auf zähes Nachhaken der beteiligten Journalisten sagte er, die Reaktoren, die ihre Altersgrenze bis 2017 erreichten – sie war von der amtierenden ­Regierung von 40 auf 50 Jahre angehoben worden –, würden durchaus ab­geschaltet werden.

Im Januar lagen zunächst 17 von insgesamt 57 Reaktorblöcken in Frankreich wegen dringender Wartungsarbeiten still, bis Herbst werden es wohl elf sein. Bei mehreren Reaktoren, darunter den beiden leistungsstärksten des Landes, Chooz in den Ardennen und Civaux in Westfrankreich, sowie am 13. Januar an dem in Penly in der Normandie, wurden unerwartete Korrosionsschäden an den Rohrleitungen gefunden. Allein zehn Prozent der atomaren Stromerzeugungskapazität in Frankreich mussten deswegen, zusätzlich zu erwarteten Reparaturzeiten, vom Netz genommen werden. Der Aktienkurs von EDF sackte schlagartig ab.

Die Industrie hat sich bereits darauf vorbereitet, Kapazitäten einschränken oder in die Nachtproduktion gehen zu müssen. Aber im Präsidentschaftswahlkampf überdeckt dies derzeit der Atomoptimismus der wichtigsten Kandidaten.