Kathleen Stock und ihr in ­keiner Weise hasserfülltes Buch »Material Girls«

Auf tönernen Füßen

Kathleen Stock gilt vielen in der derzeitigen Debatte als rigorose Hasserin von Transmenschen. In ihrem nun auf Deutsch erschienenen Buch »Material Girls«, in dem sie die Idee der »Geschlechtsidentität« ­kritisiert und ihren »evidenzbasierten Feminismus« vorstellt, ist von Hass allerdings nichts zu spüren.

Eigentlich ist es unmöglich, über »Material Girls« zu sprechen, ohne zu erwähnen, welche ungeheuerliche Debatte das Buch von Kathleen Stock vor allem in Großbritannien losgetreten hat und welche persönlichen Konsequenzen es für die britischen Philosophin hatte. Schon vor der Veröffentlichung war die Professorin durch kritische Blogbeiträge aufgefallen. Dann ging ihre Demontage ganz schnell: Im März 2021 erschien »Material Girls«, im Oktober 2021 gab die Universität Sussex dann den Rücktritt von Stock bekannt. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre an der Universität gelehrt.

Auch in dieser Zeitung wurde argumentiert, der Rücktritt von Stock sei kein Fall von »Cancel Culture« gewesen und zeige keineswegs eine Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit, immerhin sei sie ja selbst von ihrem Posten zurückgetreten und habe im Zuge dessen eine Menge Aufmerksamkeit bekommen. Das mag formal stimmen, doch wenn man weiß, welchem Druck Stock ausgesetzt war, durch ihre Kolleginnen und Kollegen, durch die Öffentlichkeit, durch ihre Gewerkschaft und vor allem durch die Studenten, dann ist eigentlich völlig klar, dass es sich bei dem Fall Stock um ein Paradebeispiel der »Cancel Culture« handelt, die sich eben am liebsten gegen linke und liberale Häretiker richtet.

Stock ist es zu verdanken, dass sie mit ihrem Buch so ziemlich jede Übertreibung aus den vergangenen Jahren der Genderdebatte zumindest einmal aus dem Weg geräumt oder richtigge­stellt hat.

Die Kampagne einer Gruppe von Studenten gegen Stock äußerte sich in martialischem Gebaren: Protestkundgebungen wurden vor dem Universitätsgebäude abgehalten, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren gekleidet wie der schwarze Block, dazu wurden Bengalos gezündet. Der gesamte Campus wurde mit Stickern vollgeklebt, auf denen »Stock out!« und Ähnliches gefordert wurde. Die Bedrohung wurde zeitweilig von der Polizei als so schwerwiegend eingeschätzt, dass sie Stock empfahl, das Univer­sitätsgelände nicht ohne Sicherheitspersonal zu betreten und an ihrer Privatwohnung Überwachungskameras anzubringen. Statt von ihrer Gewerkschaft, der University and College Union (UCU), unterstützt zu werden, forderte deren Division von Sussex die Universitätsleitung dazu auf, eine Untersuchung über »institutionalisierte Transphobie« anzustrengen – freilich ohne dabei Stocks Namen zu nennen. Dass Stock gemeint war, wusste eh jeder. Was also hatte Kathleen Stock getan? Und wieso gibt es Linke, die es gutheißen, wenn eine lesbische Frau bedroht wird und ihre Gewerkschaft nicht ihre Interessen vertritt, sondern ihr in den Rücken fällt? Ihr Vergehen: Kathleen Stock hat die Idee der »Geschlechtsidentität« kritisiert.

Was ist Gender überhaupt? Dass man diese Frage nicht eindeutig beantworten kann, ist schon das erste Problem für die Philosophin Stock. Eine höchst »mysteriöse« Sache sei Gender, mit mindestens vier Bedeutungen im derzeitigen Sprachgebrauch, wie Stock ausführt: Erstens werde Gender gebraucht, um höflich auf die zwei Geschlechter hinzuweisen, ohne dafür das englische Wort sex benutzen zu müssen. Zweitens sei Gender ein Begriff für soziale Stereotype von Männlichkeit und Weiblichkeit. Drittens eine Bezeichnung für eine soziale Rolle, ein Begriff, der gerade von älteren Feministinnen benutzt wurde, um der Idee des biologischen Determinismus ­argumentativ (und unzureichend, wie Stock findet) beizukommen. Und viertens, und das ist die neue Definition des Begriffs Gender, bezeichnet man mit ihm die »Geschlechts­identität«, die Art und Weise, wie man sein Geschlecht beziehungsweise seine Rolle empfindet. Kurz: Alles geht durcheinander.

Stocks Buch ist genau dieser vierten Version gewidmet, es handelt von der Theorie der »Geschlechtsidentität«, der gender identity. Um dieser gewissermaßen auf die Schliche zu kommen, stellt Stock zunächst drei Modelle vor, aufgrund derer man das Geschlecht, eben nicht das Gender, eines Menschen feststellen kann. Erstens das »Gameten-Modell«, also ob ein menschlicher Körper ­große (Frauen) oder kleine (Männer) Fortpflanzungszellen produziert. Zweitens das »Chromosomen-Modell«, also ob ein Mensch in seinen Zellen ein Y-Chromosom aufweist (Männer) oder nicht (Frauen). Und schließlich das »Cluster-Modell«, bei dem morphologische Unterschiede einer Spezies dazu führen, sie voneinander unterscheiden zu können: Bartwuchs (Männer ja, Frauen nein) oder das Vorhandensein von Brüsten (Frauen ja, Männer nein).

Was bei diesen drei von Stock vorgestellten Modellen auffällt (und sie wird nicht müde, das fortlaufend im Buch zu betonen), ist, dass man sie anwenden kann, ohne ein einziges Mal über Männlichkeit und Weiblichkeit, über Stereotype, über Charakterzüge, über Fähigkeiten oder Eigenschaf­ten der Menschen zu sprechen, die die beschriebenen Merkmale aufweisen. Die auf biologischen Erkenntnissen beruhenden, als »essentialistisch« gebrandmarkten Modelle sind ironischerweise diejenigen, die komplett ohne ein Konzept von klischeebeladenen männlichen und weiblichen Eigenschaften oder Verhaltensweisen ­auskommen – ganz im Gegensatz zur »Geschlechtsidentität«, laut der nach Auslegung mancher ein Junge, der gern mit Puppen spielt, zwingend ein Mädchen sein, also eine weibliche Geschlechtsidentität haben muss, und deswegen eigentlich transgeschlechtlich ist. Zwar breitet Stock aus, dass es bei ihren drei Modellen Ausnahmen gibt, sie nicht immer auf alle Menschen zutreffen, beispielsweise auf Intersexuelle – Ausnahmen bestätigen aber auch in diesem Fall die Regel.

Dass Stock so viele Buchseiten darauf verwendet, eine kohärente Definition von Geschlecht zu liefern, hat damit zu tun, dass mittlerweile in der Öffentlichkeit, von politischen Gruppen, von NGOs, Medien, Parteien und sogar von Regierungen und der Rechtsprechung die Geschlechts­identität oftmals als wichtiger eingestuft wird als das körperliche Geschlecht. Während Stock nicht leugnet, dass es so etwas wie gender identity in dem Sinne gibt, dass Menschen glauben, eine zu haben, ist sie der Meinung, dass in gewissen gesellschaftlichen Bereichen das kör­perliche Geschlecht ausschlaggebend sein sollte und nicht die gender identity der jeweiligen Person, so zum Beispiel in öffentlichen Umkleiden und Toiletten, Frauenhäusern, in der medizinischen Versorgung, im Sport und in Gefängnissen, ferner bei statistischen Erhebungen und in Bezug auf die sexuelle Orientierung. Dass weibliche Körper anders auf Medikamente reagieren als männliche, dass statistisch gesehen vier Prozent der Männer und 20 Prozent der Frauen im Laufe ihres Lebens eine Art von sexuellem Übergriff erleben, dass es im Boxsport Gewichtsklassen gibt, Menschen also nach ihrer Physiognomie unterschieden werden, das aber bezüglich Geschlecht nicht mehr gelten soll – das sind nur einige Gründe, die Stock ­dafür nennt, in diesen Bereichen Geschlecht über Geschlechtsidentität zu stellen, um eine unfaire Behandlung von Frauen im Namen von Transrechten zu verhindern. Zwar spricht sich Stock an mehreren ­Stellen des Buchs gegen den »biologischen Determinismus« aus, stellt aber auch fest, dass es naiv sei zu glauben, man könne »diese Unterschiede irgendwie loswerden, indem wir sie ignorieren«.

Neben den politischen Problemen, die sich für Stock aus der Nivellierung des Unterschieds zwischen Menschen männlichen und weiblichen Geschlechts ergeben, hat sie aber auch ein theoretisches Interesse an ihrem Gegenstand. Sie stellt nicht nur heraus, dass nicht alle Transmenschen von sich selbst behaupten, eine Geschlechtsidentität zu haben, sie stellt auch fest, dass nicht jeder Mensch, der sich mit seinem Körper oder seinem Geschlecht unwohl fühlt oder sich nicht im Sinne gesellschaftlicher Erwartungen geschlechtskonform verhält, deswegen automatisch trans ist, der Begriff also von vornherein auf tönernen Füßen steht. Darüber hinaus hat sich Stock jahrzehntelang philosophisch mit der Fiktion und der Imagination befasst. Von Transmenschen, die behaupten, buchstäblich ihr Geschlecht zu wechseln, sagt Stock, sie seien in eine »Fiktion eingetaucht«. Sie meint das nicht wertend, zählt aber auf, was für nega­tive Folgen dieses Verständnis der Transition und allgemein das Eintauchen in eine Fiktion, beispielsweise im Internet, haben kann: Wenn man dazu motiviert wird, die Fakten des eigenen Körpers zu leugnen, kann das eine Geschlechtsdysphorie, also das starke Unwohlsein mit dem eigenen Körper, das Transmenschen empfinden, sogar noch verstärken.

Stock ist es zu verdanken, dass sie mit ihrem Buch so ziemlich jede Übertreibung, jede Verzerrung, jede Irrationalität, jede interessierte Lüge aus den vergangenen Jahren der Genderdebatte zumindest einmal aus dem Weg geräumt oder richtiggestellt hat. Das Ganze liest sich so unprätentiös und so sachlich, dass man sich fragt, was eigentlich das Pro­blem derer ist, die gegen das Buch und die Autorin agitieren. Vielleicht sind sie irritiert davon, ernst genommen zu werden – oder wollen es gar nicht, sondern ausschließlich recht behalten. Stock nimmt das, was Transaktivisten sagen, tatsächlich ernst, und zwar mit einer Engelsgeduld, gerade dann, wenn sie beliebte talking points einem Realitätscheck unterzieht, statt sie einfach polemisch zu verwerfen. Den Menschen, die behaupten, Geschlecht sei nicht binär und jede Abweichung von dieser Behauptung sei Biologismus, entgegnet sie: »Tatsächlich könnte ein binäres Modell zweier natürlicher Geschlechter zutreffend sein und biologischer Determinismus völlig falsch.« Und den Transaktivisten, die solche Argumente bringen wie die, dass nicht jede Frau einen Uterus habe, weil dieser vielleicht entfernt wurde, man schließlich also nicht von Körper­teilen auf das Geschlecht schließen könnte, schreibt Stock ins Stammbuch, dass es sich bei dem Begriff Frau eben auch um einen abstrakten Begriff handelt, um eine Kategorie. Frauen sind im Durchschnitt immer noch Männern an Muskelkraft unterlegen, reagieren anders auf Medikamente, haben kleinere Lungen, aber dafür etwa 1 000 Gene mehr durch das zweite X-Chromosom – und das auch, wenn sie sich als trans oder nichtbinär identifizieren. Frauen bleiben sie, zumindest in Bezug auf die Kategorie des körperlichen Geschlechts, immer noch.

Dass gerade auch Feministinnen in den vergangenen Jahren den Begriff Frau als politischen und analytischen aufgegeben haben (ebenso wie LGBT-Organisationen, als negatives Paradebeispiel führt Stock die britische Organisation Stonewall an), lässt Stock folgenden Vorschlag machen: »Transmenschen sollten das exklusive politische Projekt eines separaten Transaktivismus sein.« Mancher Interessenkonflikt zwischen Feministinnen und Transaktivisten scheint ihr unauflösbar, und manche Debatte, wie beispielsweise die über öffentliche Toiletten, versucht sie pragmatisch zu lösen, indem sie vorschlägt, einfach eine dritte Toilettenoption neben männlich und weiblich einzuführen, nicht um Transmenschen zu demütigen oder sie als per se übergriffig darzustellen, sondern um gerade in Zeiten der Selbstidentifikation sicherzustellen, dass Frauen die Handhabe haben, übergriffige Männer (und nicht Transfrauen) aus einem Ort wie einer öffentlichen Toilette verbannen zu können.

Manche wird es verwundern, dass Stock auch diejenigen Radikalfeministinnen, die ihr inhaltlich nahestehen, einer Kritik unterzieht und ­ihnen unter anderem vorwirft, »entmenschlichend« und »grob« über Transmenschen zu sprechen. Und hoffentlich wird der eine oder die andere, die bis jetzt dachte, Stock sei die schlimmste Transhasserin von ­allen, Einsicht zeigen, wenn sie lesen, was sie gegen Ende des Buchs schreibt: »Was Transmenschen nicht verdienen, ist, in der Öffentlichkeit mit philosophischen Be­griffen, die keinerlei Sinn ergeben, entstellt zu werden; auch nicht, dass ihre alltäg­lichen Kämpfe im Namen politischer Initiativen ­instrumentalisiert werden, um die die meisten von ­ihnen nicht gebeten haben und die ­andere Gruppen« – Frauen und ­Homosexuelle – »befremden, indem auf rigide ­Weise in deren hart erkämpfte Rechte eingegriffen wird.«

Kathleen Stock: Material Girls. Warum die Wirklichkeit für den Feminismus unerlässlich ist. Aus dem Englischen von Vojin Saša Vukadinović. Edition Tiamat, Berlin 2022, 384 Seiten, 26 Euro