Unterirdische Gotteskrieger
Israelfeindliche Terroristen waren nicht die ersten, die auf die Idee kamen, Tunnel zu graben, um unentdeckt eine Grenze zu überqueren. Nach dem Ende des Korea-Kriegs 1953 wurde die Halbinsel am 38. Breitengrad geteilt und auf beiden Seiten der Grenze eine sogenannte Demilitarisierte Zone (DMZ) eingerichtet. Trotz des Waffenstillstands blieb die Kriegsgefahr stets präsent, und zwei Jahrzehnte nach dem Ende des bewaffneten Konflikts wurden unweit der südkoreanischen Hauptstadt Seoul mehrere noch nicht fertiggestellte Tunnel entdeckt. Bei einem davon war die Grabung bereits 500 Meter über die DMZ hinaus vorangeschritten – eine Vorbereitung für einen Überraschungsangriff.
Eine ähnliche Strategie verfolgte auch die islamistische Terrororganisation Hizbollah aus dem Libanon gegen Israel. Die Ende 2018 entdeckten Tunnel sollten der vom Iran unterstützten schiitischen Miliz für eine Militäroperation auf israelischem Territorium dienen – und es stellte sich heraus, dass sie mit nordkoreanischer Hilfe gegraben wurden.
»Wir leben auf einem Pulverfass und viele Menschen glauben, dass es womöglich noch weitere unentdeckte Tunnel geben könnte.« Shlomi Ben Barak aus Zar’it nahe der libanesischen Grenze
»Jahrelang hörten wir Grabungsgeräusche unter unseren Häusern, die aber von der Regierung und den israelischen Streitkräften nicht ernst genommen wurden«, sagt Shlomi Ben Barak aus Zar’it. Der Moshav (genossenschaftliche Siedlung) liegt unweit der libanesischen Grenze. »Erst nach dem Gaza-Krieg 2014, in dem ein weitläufiges Tunnelsystem der Hamas-Terroristen eine Schlüsselrolle spielte, wurde die Suche im Norden aufgenommen und vier Jahre später wurden die Tunnel entdeckt.« Der pensionierte Landwirt wurde in Beirut geboren, musste aber nach dem israelischen Sieg im Sechstagekrieg 1967 mit seiner Familie aus dem Libanon fliehen, als dort – wie in zahlreichen arabischen Ländern – antisemitische Pogrome ausbrachen. Als Zar’it in Nord-Galiläa im selben Jahr gegründet wurde, gehört er zu den ersten Bewohnern. »Im Norden nichts Neues«, schmunzelt der 79jährige sarkastisch. »Die Situation ist schon seit fast 50 Jahren sehr angespannt, vor allem seit die islamistische Hizbollah in meinem Geburtsland die Macht übernommen hat.«
Die Hizbollah (Partei Gottes) wurde 1985 mit iranischer Hilfe gegründet, drei Jahre nach der israelischen Invasion des Libanon, als der Bürgerkrieg dort seinen Höhepunkt erreichte. Weiterhin unterstützt der Iran die Terrorgruppe, die nach dem Ende des innerstaatlichen Konflikts 1990 im Gegensatz zu den anderen Milizen ihre Waffen nicht abgab. Damals hielt Israel eine sogenannte Sicherheitszone im Südlibanon besetzt; die Hizbollah führte einen blutigen Abnutzungskrieg, bis die israelischen Kräfte im Mai 2000 abzogen.
Eine der gefährlichsten Bedrohungen
Mittlerweile hat sich die Hizbollah auch als politische Partei etabliert und kontrolliert de facto die libanesische Politik, da keine Entscheidung ohne ihre Zustimmung getroffen werden kann. Die Hizbollah finanziert sich auch über ein internationales Netzwerk unter anderem mit Drogenhandel und Geldwäsche. Sie verfügt über mindestens 65 000, nach einer Schätzung der IDF sogar 150 000 Raketen, darunter Tausende mit genug Reichweite, um fast jedes Ziel in Israel erreichen zu können.
Die Hizbollah ist zu einer der gefährlichsten Bedrohungen für die israelischen Streitkräfte (IDF) in der Region geworden und viele Experten rechnen früher oder später mit einer noch größeren Eskalation als im Sommer 2006. Damals hatte ein Grenzzwischenfall, bei dem zwei israelische Soldaten verschleppt wurden, einen Krieg ausgelöst, der für 34 Tage andauerte.
Die »Blaue Linie«, die auf einen UN-Beschluss zurückgehende Demarkationslinie zwischen Libanon und Israel, wird immer wieder illegal überquert. Oft sind die Vorfälle harmlos, doch haben sich Hizbollah-Agenten schon als Schäfer getarnt. Um sich vor unmittelbaren Bedrohungen zu schützen, verfügen die meisten Gemeinden entlang der israelischen Nordgrenze über lokale bewaffnete Schnellreaktionstrupps, die von den IDF ausgebildet wurden und oft als Erste zur Stelle sind, wenn verdächtige Grenzaktivitäten bemerkt werden. »Die friedliche Idylle trügt«, sagt Ben Barak. »Hier kann jederzeit ein Krieg ausbrechen. Wir leben auf einem Pulverfass und viele Menschen glauben, dass es womöglich noch weitere unentdeckte Tunnel geben könnte.«
Insgesamt fanden die IDF während der »Operation Nördlicher Schutzschild« im Dezember 2018 sechs Hizbollah-Tunnel in der Gegend um Zar’it und zerstörten fünf davon. Um den letzten für Forschungszwecke zu erhalten und ihn auch der Öffentlichkeit zu präsentieren, wurde er nur auf libanesischer Seite mit Beton unzugänglich gemacht. Der ein Kilometer lange unterirdische Gang führt vom libanesischen Grenzdorf Ramyah 250 Meter weit auf israelisches Gebiet, seine steilen Steinstufen führen in Spiralform in 75 Meter Tiefe.
»Der Terrortunnel ist mit einer fortschrittlichen Infrastruktur für Strom-, Lüftungs- und Kommunikationssysteme ausgestattet und es hat knapp fünf Jahre gedauert, um ihn fertigzustellen«, sagt Oberstleutnant Jonathan Conricus, der für die internationalen Medien zuständige Pressesprecher der IDF. »Dies war Teil der perfiden psychologischen Kriegsführung der Hizbollah, die sie schon vor dem Zweiten Libanon-Krieg 2006 plante und in den vergangenen Jahren durch finanzielle Unterstützung des Iran und logistische Hilfe aus Nordkorea verwirklichte. Es sollte ihrer Spezialeinheit Radwan einen Infiltrationsangriff auf militärische und zivile Ziele im Norden Israels ermöglichen.«
Ein schätzungsweise 45 Kilometer langes Tunnelsystem erstreckt sich bis ins Bekaa-Tal, eine Hochburg der Hizbollah. Am Bau war einem Bericht des Alma Research and Education Center zufolge die Korea Mining Development Trading Corporation beteiligt, ein nordkoreanisches Staatsunternehmen, das sich auf die Entwicklung unterirdischer Infrastruktur spezialisiert hat. Der Iran habe das Projekt mit über 13 Millionen US-Dollar für die Lieferung von Baumaterialien für den Tunnelaushub sowie für den Transfer von Ingenieurstechnologie aus Nordkorea finanziert.
Gänge bis nach Beirut
Der IDF-Reserveoffizier Conricus erklärt, ein Expertenteam der Hizbollah habe sich unter Aufsicht der iranischen Revolutionsgarden mit einem gewöhnlichen zylinderförmigen Bohrer Stück für Stück durch den harten Untergrund gegraben und den Schutt auf einer zivilen Baustelle auf libanesischer Seite gelagert: »Die Hizbollah verfügt über ein größeres interregionales Tunnelnetz als die Hamas im Gaza-Streifen. Diese Tunnel enthalten Kommando- und Kontrollräume, Waffen- und Versorgungsdepots, Feldkliniken sowie bestimmte ausgewiesene Schächte zum Abfeuern von Raketen.«
Die unterirdischen Gänge der islamistischen Miliz erstrecken sich auch bis nach Beirut, wo die Hizbollah ihr Hauptquartier hat. Somit gibt es eine Verbindung von den Zentren der Hizbollah in der libanesischen Hauptstadt und dem Bekaa-Tal mit der logistischen Operationsbasis im Südlibanon und der Grenze. Das ermöglicht es nicht nur, schnell und unerkannt Kämpfer zu verlegen. Einige Tunnel eignen sich als Ausgangsbasis für Artillerieangriffe, durch andere können auch Motorräder, Gelände- und Kleinfahrzeuge transportiert werden. »Das Modell der Hizbollah gleicht dem Nordkoreas«, sagt Conricus. »Auch in deren Tunneln hätten Hunderte von Kombattanten gut ausgerüstet, heimlich und schnell unterirdisch passieren können.«
Seit der Antike sind Tunnel eine Konstante in der asymmetrischen oder irregulären Kriegsführung und tragen zur Komplexität, Unvorhersehbarkeit und Unsicherheit bei, die in bewaffneten Konflikten unvermeidlich sind und als »Nebel des Kriegs« bezeichnet werden. Schon während des Bar-Kochba-Aufstands 132 bis 136, der letzten jüdischen Rebellion gegen die römischen Besatzer in Judäa, waren sie zu Beginn sehr bedeutend. Sie eignen sich vor allem für Guerillakriege, denn sie ermöglichen es der kleineren Streitmacht, überraschend zu erscheinen und so Schwächen des zahlenmäßig überlegenen Feindes auszunutzen.
Tunnel wurden auch in der modernen Kriegsführung verwendet, etwa an der deutschen Westfront im Ersten Weltkrieg. Doch wurde ihr Einsatz erst Mitte des 20. Jahrhunderts insbesondere auf den Schlachtfeldern im asiatischen Raum professionalisiert. Die Japaner nutzten Tunnel im Pazifik-Konflikt gegen die USA im Zweiten Weltkrieg ebenso wie die Partisanen im vietnamesischen Unabhängigkeitskrieg (Indochina-Krieg) gegen die französischen Kolonialherren und später auch im Vietnam-Krieg, um die US-amerikanischen Besatzer zu bekämpfen. Nordkorea hat seit den fünfziger Jahren Erfahrung im Bau von Tunneln für militärische Zwecke, das Regime, das auch im Bereich der Raketentechnologie mit dem Iran kooperiert, gibt dieses Wissen nun weiter.
Die Möglichkeit eines Überraschungsangriffs auch größeren Ausmaßes ist für die IDF eine schwierige strategische Herausforderung. »Israel hat lange gebraucht, um eine Lösung für die unterirdische Kriegsführung seiner Widersacher zu finden«, sagt Daphné Richemond-Barak, leitende Juristin am Institut für Terrorismusbekämpfung des Interdisziplinären Forschungszentrums in Herzliya bei Tel Aviv. »Jerusalem hat sich in den vergangenen Jahren durch intensive Investitionen in Forschung, Wissenschaft, Bildung, Doktrin, Ausrüstung und Ausbildung auf alle Eventualitäten solcher Kämpfe vorbereitet.«
Richemond-Barak, die das Buch »Underground Warfare« (Kriegsführung im Untergrund) verfasst hat, erklärt, dass die Versiegelung der Tunnel durchbrochen werden könnte und Israel in naher Zukunft vielleicht sogar weitere entdecken werde. Zwar plane Israel, ein verbessertes Bodenradarsystem und Satellitenbilder bei der Suche einzusetzen und zudem die Grenzbefestigungen am Gaza-Streifen und der Blauen Linie zu verstärken. Doch auch hochentwickelte Sensoren stellten ein statisches Ziel dar, so dass die Überwachung auf Schwachstellen untersucht und umgangen werden könne. »Israel könnte dadurch an mehreren Fronten gleichzeitig angegriffen werden«, befürchtet Richemond-Barak.
Angespannte Lage
In ihrem Buch spricht sie von Präventionsmaßnahmen. Luftangriffe seien bei der Zerstörung von Tunnelsystemen nur bedingt effektiv gewesen und eine sich völkerrechtskonform verhaltende Armee wie die IDF könne Mittel wie Giftgas, Flammenwerfer oder Überschwemmungen nicht einsetzen. Israel verbessere sein Geheimdienstnetz, die IDF experimentierten mit Flüssigsprengstoffen. Auch könnten lasergesteuerte Bomben mit doppeltem Zünder – eine erste Sprengung verteilt brennbare Partikel, eine zweite entzündet sie – eingesetzt werden, um in einem Tunnelsystem größere Zerstörung zu erzielen. Die USA benutzten diese sogenannten Vakuumbomben im Afghanistan-Krieg.
Die Terrorexpertin Richemond-Barak berichtet aber auch, dass Unterschiede zwischen dem Terrain der Hamas im Süden und dem der Hizbollah im Norden sehr unterschiedliche Taktiken erforderten. Sie ist skeptisch, ob der jüdische Staat angesichts der Bedrohung eine großangelegte Operation im Libanon und in Gaza vermeiden könne: »Ich bin mir nicht sicher, ob sich diese Probleme von israelischem Gebiet aus lösen lassen.«
»Diese Tunnel enthalten Kommando- und Kontrollräume, Waffen- und Versorgungsdepots, Feldkliniken sowie Schächte zum Abfeuern von Raketen.« Oberstleutnant Jonathan Conricus, Pressesprecher der IDF
Mit dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 hat sich auch die Lage an Nordgrenze verändert. Israel Strategie des »Kriegs zwischen den Kriegen« soll die Ausdehnung der militärischen Aktivitäten des Iran in Syrien eindämmen. Die Situation ist extrem angespannt und aus mehreren Gründen könnte jederzeit ein Krieg beginnen. So könnte jede Seite einen Präventivschlag erwägen, insbesondere wenn sie vermutet, dass ihr Gegner nach anhaltenden Spannungen einen Angriff plant. Zwar kam es in den vergangenen Jahren zu einigen Scharmützeln an der Grenze, doch waren es keine bedeutenden Vorfälle, die zu einem größeren bewaffneten Konflikt geführt hätten. Jede Seite beobachtet die andere genau und versucht, kleine Veränderungen zu erkennen, die ein Zeichen für eine bevorstehende Offensive sein könnten, um diese mit einer militärischer Machtdemonstration abzuwenden.
»Zwar möchte keine Seite eine neue Auseinandersetzung«, sagt Shlomi Ben Barak, »doch alle wissen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis der dritte Libanon-Krieg beginnt.« Obwohl der ehemalige Landwirt im Yom-Kippur-Krieg 1973 mehrere Familienmitglieder und Jahre später bei einem Terroranschlag seine Frau verlor, engagiert er sich schon lange bei der israelischen Friedensbewegung. Doch er weiß auch, dass es niemals zu einem Ausgleich zwischen seiner alten und neuen Heimat kommen wird, solange die Hizbollah im Libanon ungehindert agieren kann. »Ich träume davon, noch einmal Beirut zu besuchen«, erzählt der Rentner. »Abgesehen von einigen Krisen war der Libanon ein Paradies auf Erden, das leider durch den Bürgerkrieg und später vom Iran und seinen Helfern zerstört wurde.« Ben Barak bleibt aber trotzdem optimistisch und hofft, dass eines Tages Besinnung einkehren werde. »In einem Krieg gibt es keine Gewinner, sondern nur Verlierer.«