Internationale und ukrainische Linke haben sich im ukrainischen Lwiw ausgetausch

Wenn Pazifismus zum Luxus wird

Bei einem Kongress ukrainischer Linker in Lwiw vergangene Woche wurde klar: Den Krieg will niemand, aber auch Anarchisten und Sozialisten sehen keine Alternative zur militärischen Verteidigung der Ukraine.

Während am 9. Mai in Moskau eine Militärparade abgehalten wurde, schlugen in der ukrainischen Hafenstadt Odessa Raketen ein. Schon vor dem Jahrestag des Sieges der Alliierten über Deutschland, der in der Ukraine sowohl am 8. Mai, wie in der EU, als auch am 9., wie in der ehemaligen Sowjetunion, gefeiert wurde, hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Bevölkerung in einer Videoansprache vor möglichen russischen Luftangriffen gewarnt. »Es geht um euer Leben und das euer Kinder«, mahnte er. Paraden gab es in der Ukraine nicht.

In der westukrainischen Stadt Lwiw zeigten sich die Menschen von Selenskyjs Warnung wenig beeindruckt, denn längst sind Luftalarme zur Routine geworden. Wenn die Sirenen erklingen – oft passiert das ein bis zwei Mal täglich –, reagieren die Menschen auf den Straßen kaum noch. Weil sich nicht ­genau vorhersagen lässt, wo die russischen Raketen einschlagen werden, ­folgen dem Alarm oft keine Explosionen.

Ein Mitglied von Sozialnyj Ruch erzählt, er habe es wirklich satt, von der internationalen Linken immer wieder das Bild einer blutdürstigen Ukraine präsentiert zu bekommen.

Doch auch Lwiw, das im Westen des Landes nahe der polnischen Grenze liegt, wird bombardiert. Am 3. Mai schlugen mehrere Raketen im Stadtzentrum ein. Ziel waren offenbar Elektrizitätswerke und der Bahnhof, um den Zugverkehr lahmzulegen. Dieser ist nicht nur für die Versorgung des Landes essentiell, sondern auch, um das von den Nato-Staaten nach Polen gelieferte Kriegsgerät an die Front im Osten zu trans­portieren.

Am Tag darauf fuhr ein Bus vom polnischen Rzeszów, wo sich eine große US-Militärbasis befindet, ins ukrainische Lwiw. Er war voll mit Ukrainern, die, oft mit ihren Kindern, in ihr Land zurückkehrten – und einer internationalen linken Delegation. Etwa 30 Vertreter verschiedener Gruppen und Parteien aus zahlreichen Ländern, darunter auch Abgeordnete aus Polen, Finnland, der Schweiz, Frankreich und Argentinien, fuhren gemeinsam nach Lwiw.

Organisiert wurde die Reise vom European Solidarity Network for Ukraine, das im April von jungen schweizerischen Linken gegründet worden war. In Lwiw hatte die ukrainische Gruppe Sozialnyj Ruch (Soziale Bewegung) einen mehrtägigen Kongress organisiert, mit ukrainischen Gewerkschaftern, Anarchisten, Menschenrechtlern, Vertretern von selbstorganisierten ­Roma-Gruppen und von Queer-Kollektiven.

Es ist nicht leicht, in der Ukraine links zu sein – das wurde bei einem einführenden Gespräch mit Witalij Dudin deutlich. Er ist von Beruf Anwalt für Arbeitsrecht und der Vorstandsvorsitzende von Sozialnyj Ruch. Der poli­tische Mainstream im Land sei neoliberal und nationalistisch geprägt, wenn auch ganz sicher nicht faschistisch, sagt er. Die Linke sei klein und marginalisiert. Sozialnyj Ruch habe gerade einmal 100 aktive Mitglieder, sei aber trotzdem die wichtigste linke Organisation in der Ukraine. Man bekenne sich zum demokratischen Sozialismus. Das Ziel sei, die Arbeiterklasse und alle unterdrückten Menschen in der Ukraine zu vertreten.

Deshalb, so Dudin, versuche man, mit Gewerkschaften zusammenzuarbeiten. Doch das sei nicht einfach, die ­Gewerkschaften seien unpolitisch und suchten oft Kompromisse. Seit Kriegsbeginn seien die Arbeitsrechte noch weiter eingeschränkt worden, dagegen müsse man kämpfen. Bisher sei die enorme ökonomische Last des Kriegs auf die arbeitende Bevölkerung abgewälzt worden, statt Steuern auf große Vermögen zu erhöhen.

Die extreme Rechte versuche, linke Gruppen wie Sozialnyj Ruch zu unterdrücken. Schon seit Jahren habe man sich bei Demonstrationen immer überlegen müssen, ob mit Angriffen von Faschisten zu rechnen sei – dieses Problem erwähnt Dudin aber eher beiläufig. Die Gefahr des Rechtsextremismus wird vor ausländischen Gästen selten in den Vordergrund gerückt.

Eine eigene Partei habe Sozialnyj Ruch bislang nicht gegründet, weil die Auflagen dafür in der Ukraine schwer zu erfüllen seien, sagt Dudin. Auch bei der Meinungsäußerung müsse man in mancher Hinsicht Vorsicht walten lassen. Ein 2015 erlassenes Gesetz verbietet zum Beispiel einen expliziten Bezug auf die Sowjetunion ebenso wie auf den Nationalsozialismus. Den Mitgliedern der internationalen Delegation wurde deshalb geraten, vor dem Grenzübertritt sicherzustellen, keine entsprechenden Symbole wie etwa Hammer und Sichel bei sich zu tragen.

Sozialnyj Ruch lehne dieses Gesetz ab, sagt Dudin. Es bestehe durchaus die Gefahr, dass es gegen echte Linke gerichtet werden könnte, die sich für eine sozialistische Transformation der Gesellschaft einsetzten. Doch die Parteien, die bisher aufgrund des Gesetzes verboten worden seien, seien nicht wirklich links gewesen. Er nennt die Kommunistische Partei und die Progressive Sozialistische Partei der Ukraine, die zwar Kommunismus oder Sozialismus im Namen getragen, aber eigentlich ­reaktionäre Ziele verfolgt hätten. Sie hätten sich in Opposition zum transnationalen Kapital gesehen, aber damit hätten sie McDonalds, Coca-Cola und LGBTQ-Rechte gemeint, nicht die heimischen Oligarchen. Und besonders die Kommunistische Partei der Ukraine sei tatsächlich bis zu einem gewissen Grad ein Agent des russischen Imperialismus gewesen. Schon während des Euromaidan hätte die Partei 2014 die sogenannten Diktaturgesetze des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch ­unterstützt, mit denen zur Unterdrückung des Maidan friedlicher Protest verboten werden sollte.

Obwohl die Mitglieder von Sozialnyj Ruch in der ukrainischen Gesellschaft eine marginale Position einnehmen, obwohl sie durch faschistische Straßengewalt und potentiell auch den Staat bedroht sind, ist für sie eines völlig selbstverständlich: Sie befürworten die militärische Verteidigung der Ukraine. Das wohl wichtigste Ziel des Kongresses war, bei Linken im Ausland für ­diese Haltung zu werben.
Ein Mitglied von Sozialnyj Ruch berichtet, er habe es wirklich satt, von der internationalen Linken immer wieder das Bild einer blutdürstigen Ukraine präsentiert zu bekommen, die ihre Bevölkerung in einem Krieg gegen Russland opfern wolle. Nicht die Ukraine, sondern Russland habe sich bisher gegen jeglichen zumutbaren Kompromiss zur Beendigung des Krieges gesperrt. »Wir sind gezwungen, diesen Krieg zu führen, niemand hier will den Krieg«, sagt er.

Ein anderes Mitglied, das betont, nur ein gesundheitliches Problem habe ihn davon abgehalten, sich freiwillig zur Armee zu melden, sagt in seiner Rede bei der Konferenz, der russische Angriffskrieg habe einmal mehr den »totalen Bankrott der poststalinistischen Linken« gezeigt. Auch in Deutschland sehe man das. Die Position der Partei »Die Linke« sei »einfach Nonsens«. Durch die russische Invasion sei ein großer interimperialistischer Krieg wahrscheinlicher geworden. Gerade deshalb brauche man einen neuen ­Internationalismus. »Ich hoffe, diese Konferenz wird helfen, eine interna­tionale Arbeiterbewegung aufzubauen.« Diese müsse feministisch und ökologisch sein.

Gemessen an diesem Anspruch war die Konferenz freilich ein bescheidener Anfang. Zumindest aber war sie politisch vielfältig. Der internationalen Delegation gehörten auch Vertreterinnen der polnischen Partei Lewica Razem an. Diese war erst kürzlich aus der »Progressiven Internationale« und DiEM25 ausgetreten, zwei internationalen linken Bündnissen, die sich aus der Sicht von Razem nicht klar genug gegen den russischen Imperialismus gestellt hatten.

Ebenfalls dabei war die trotzkistische Organisation »Internationale Liga der Arbeiter – Vierte Internationale« mit Vertretern aus Spanien und Argentinien. Sie arbeitet eng mit der anarchistisch geprägten ukrainischen Gruppe Operation Solidarity zusammen, von der zwei wohl kaum 30 Jahre alte Mitglieder aus Kiew am Kongress teilnahmen, Serhij Mowtschan und Jurij Tschernata. Operation Solidarity bezeichnet sich als antiautoritäres Freiwilligennetzwerk, das »alle progressiven Kräfte dabei unterstützen will, sich der imperialistischen Aggression gegen die Ukraine entgegenzustellen«.

Die ukrainische Szene der anarchistischen oder antiautoritären Linken sei durch den Krieg mobilisiert worden, berichteten Mowtschan und Tschernata. Schon vor dem Krieg habe man entschieden, dass im Kriegsfall einige, die dies wünschten, sich freiwillig für die Territorialverteidigungseinheiten melden würden, die aus Zivilisten rekrutiert werden, und andere ein Netzwerk bilden würden, um sie mit Ausrüstung zu versorgen. Es gebe jetzt zwei Zweige der antiautoritären Bewegung, einen für Hilfsgüter und einen militärischen. Dieser sei aber Teil der regulären Militärstrukturen in der Ukraine.

Die ukrainischen Territorialverteidigungskräfte gibt es erst seit vergangenem Jahr. Es sind lokale Freiwilligenverbände, die größtenteils nach Beginn der Invasion geschaffen wurden. In Kiew gebe es eine Einheit, die von Anarchisten dominiert sei, so wie es auch rechtsextrem dominierte Einheiten gebe. Von Letzteren gibt es freilich viel mehr. Sie sind besonders aktiv in den sozialen Medien und machen mit ihren Kampfeinsätzen Propaganda. Manche Anarchisten machen es ähnlich, posten Fotos ihrer bewaffneten Einheiten mit anarchistischen Flaggen.

Mowtschan und Tschernata schätzen, etwa 100 Anarchisten oder antiauto­ritäre Linke hätten sich freiwillig zum Kämpfen gemeldet. Dass es notwendig sei, sich der Invasion mit Waffen zu widersetzen, sei unter ihren Genossen Konsens gewesen. Natürlich sei nicht jeder bereit, mit einer Waffe zu kämpfen. Doch der bewaffnete Widerstand sei am wichtigsten. Sollte die Ukraine verlieren, verlöre alle übrige Politik ihren Sinn, dann würde es in der Ukraine keine Linke oder Rechte, ja überhaupt kein politisches Leben mehr geben. Das sehe man in Russland selbst und in den besetzten ukrainischen Gebieten.

Manche von ihnen seien Antimilitaristen, aber sie verstünden sehr gut, dass man in der derzeitigen Lage umdenken müsse. »Wir haben nicht den Luxus, hundertprozentige Pazifisten zu bleiben.« Man habe von dem offenen Brief in Deutschland gehört, in dem gefordert wurde, keine schweren Waffen zu schicken, um dadurch das Leiden der ukrainischen Bevölkerung zu beenden. Das sei ein »riesiger Haufen Bullshit«, es sei genau andersherum.

Wer nicht kämpfen wolle, beteilige sich an der humanitären Hilfe. Man sammle Geld, auch aus dem Ausland, um die Genossen auszurüsten, die sich den Territorialverteidigungskräften angeschlossen haben. Denn diese ­erhielten vom Staat nur die notwendigste Ausrüstung. Auch wende man sich mit Medienarbeit an internationale Linke. Es sei sehr wichtig zu zeigen, dass es in der Ukraine nicht nur das rechtsextreme Regiment Asow gebe, sondern auch Anarchisten sich der russischen Invasion widersetzten.

Nach Asow würden sie ständig gefragt. Die beiden anarchistischen Linken ­wirken fast genervt, als das Thema aufkommt. Man wolle den Rechtsextremismus nicht kleinreden, wie die ukrainischen Liberalen es immer täten. Man kenne sich mit den Rechtsextremen im Land gut aus. Serhij Mowtschan, der vor der Invasion an einem Monitoring-Projekt über Rechtsextreme in der Ukraine arbeitete, sagt, er kenne alle Zahlen und wisse, wie groß das Problem sei. Linke würden in der Ukraine immer wieder von Nazis angegriffen. Aber seit den Massakern der russischen Soldaten habe diese Bedrohung für sie im Vergleich an Be­deutung verloren.

Auch aus dem Ausland seien Freiwillige gekommen, sogar um zu kämpfen. Anarchistische Gruppen aus Deutschland, Polen und anderen Ländern sammelten Geld, viele hülfen auch bei der Logistik. Man habe ein Lagerhaus in Polen, wo man Hilfsgüter sammle und dann nach Lwiw und Kiew weitertransportiere. Zum Beispiel habe man 100 schusssichere Westen gekauft und an anarchistische Kämpfer verteilt. Etwa 60 000 Euro habe das gekostet. Man habe immer noch nicht genug Helme, auch Erste-Hilfe-Ausrüstung fehle.

Nun plane man auch, Gewerkschafter in den Verteidigungseinheiten zu unterstützen. Denn die hätten oft nicht viel Geld und seien dementsprechend schlecht ausgerüstet, stünden aber teils an der Front im Donbass. Immer mehr Territorialverteidigungseinheiten würden an die Front verlegt, weil man sie etwa in Kiew nicht mehr brauche.

Ksenia spricht als Vertreterin eines queeren Kollektivs. Sie pflegten Gewaltfreie Kommunikation und Konsens. So würden sie ent­schei­den, welche Einheit der Armee ihre Spenden erhalten soll.

Anarchisten, die helfen, das Militär ihres Staates auszurüsten – das klingt merkwürdig, aber in der Ukraine würde es derzeit merkwürdiger erscheinen, wenn sie das nicht täten. Ksenia spricht als Vertreterin eines queeren Kollektivs. Sie hat kurzrasierte Haare, pinke Hoop-Ohrringe und Gesichtsta­ttoos. Viele Aktivisten seien bei Beginn der Invasion nach Lwiw geflohen. Für LGBTQ-Personen sei dieser Krieg auch einer für ihre Werte, wegen Russlands staatlicher Po­litik der »patriotischen Homophobie«, wie Ksenia sie nennt. Sie sei überzeugt, dass Sicherheit für Ukrainer nur durch einen Sieg möglich sei. Deshalb spenden sie die Hälfte ihres Einkommens an die Armee. In ihrem Kollektiv pflegten sie Gewaltfreie Kommunikation und Konsens. So würden sie auch darüber entscheiden, welche Einheit der Armee ihre Spenden erhalten soll.

Julian Kondur vertritt eine NGO, die sich für die Rechte von Roma einsetzt. Er spricht per Zoom aus Kiew; dabei wird er auf einen Fall in Lwiw angesprochen, bei dem Angehörige einer Roma-Familie in einem mutmaßlichen Akt der Selbstjustiz an Laternen gefesselt wurden, ihre Gesichter grün angemalt. Die Bilder hatten sich, zusammen mit solchen ähnlicher Vorfälle vor allem im Osten der Ukraine, online schnell verbreitet. Verantwortlich soll eine rechtsextreme Gruppe namens »Die Jäger« sein, sagt Kondur übereinstimmend mit Medienberichten.

Kondur zufolge gibt es im ganzen Land ein Problem mit Selbstjustiz. Er glaubt aber nicht, dass in diesem Fall Roma als solche zum Ziel gemacht worden seien, denn die übrigen Opfer der Selbstjustiz seien meistens keine Roma. Das lässt sich kaum überprüfen und kann zumindest bezweifelt werden. Denn »Die Jäger« sind Medienberichten zufolge durchaus bekannt dafür, Roma zu attackieren.

Ein Mitglied einer Umweltgruppe zeigt in seiner Präsentation die Website seiner Gruppe, die mitteilt, wie viele Milliarden Euro EU-Länder seit Kriegsbeginn für russische Energieimporte gezahlt haben. Er fordert ein komplettes Energieembargo und kritisiert, dass in Deutschland die Industrie, vor allem Chemiekonzerne wie BASF, dagegen Lobbyarbeit betreiben.

Solches Unverständnis insbesondere für deutsche Positionen findet sich immer wieder. Auf dem Kongress waren keine deutschen Delegierten anwesend. Große Teile der ausländischen Linken werden als ignorant bezüglich der Lage in der Ukraine wahrgenommen. Gerade deshalb versucht Sozialnyj Ruch, sich an Linke im Ausland zu wenden. Auch Operation Solidarity betreibe »Informationskrieg«, heißt es von ihren beiden Mitgliedern.

Während der Kongress stattfand, bereiste Gregor Gysi, der außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Linkspartei, gemeinsam mit dem Sozialmediziner Gerhard Trabert die Ukraine. Die beiden besuchten in Lwiw, Kiew und anderen Orten vor allem humanitäre Gruppen, Krankenhäuser und Einrichtungen für Flüchtlinge. Mit ukrainischen Linken traf Gysi sich offenbar nicht. »Zum Abschluss waren wir in Butscha«, schrieb er auf Twitter und fuhr dann fort, ganz juristisch korrekt: »Ich bin sehr für die internationale Untersuchung zu den Kriegsverbrechen, die hier stattgefunden haben sollen, damit wir hoffentlich erfahren, was hier tatsächlich passierte.«

Am Samstag endet der Kongress. Ein letztes Mal sitzen Teilnehmer und internationale Besucher in einer großen Wohnung im Zentrum zusammen. Dort sind Mitglieder von Sozialnyj Ruch und andere Leute aus dem Umfeld der Gruppe untergekommen. In einigen Zimmern liegen eng an eng Matratzen auf dem Boden. Gerade wurde ein Experimentalfilm vorgeführt, die Wohnung ist noch voll mit Gästen. Auch wenn manche im Gespräch erzählen, dass sie aus Mariupol oder der Krim stammen, ist die Stimmung gelöst. Zweimal hebt man in der Küche die Gläser zu einem Toast. Man trinkt auf Putins Tod und auf den Frieden, in dieser Reihenfolge. Um halb elf ist die Party vorbei, die ausländischen Gäste müssen vor Beginn der Ausgangssperre wieder im Hotel sein.

Im Flixbus zurück über die polnische Grenze sitzt eine junge Frau aus Charkiw. Auf ihrem Handy zeigt sie ein unscharfes Video, eine Nachtaufnahme. Man erkennt nicht viel, hört aber lautes Krachen. Das Video zeige den russischen Artilleriebeschuss, sie habe es nahe ihrer Wohnung in Charkiw aufgenommen. Zu Beginn des Kriegs habe sie noch gehofft, dass der ständige Beschuss bald vorbei sein werde. Einen Monat sei das so gegangen, dann habe sie es nicht mehr ausgehalten. Die Angst habe sie krank gemacht, ihr Kopf und ihr Herz hätten jeden Tag weh getan, sie habe nicht mehr schlafen können. Sie habe ihr Zuhause in Charkiw zurückgelassen, sei fürs erste in Kiew untergekommen.

Sie selbst spreche russisch und habe Familie in Russland. Ihre Großväter hätten beide in der Sowjetarmee gegen Nazi-Deutschland gekämpft. Für Politik interessiere sie sich nicht, aber von Selenskyj halte sie nicht viel. Er sei korrupt, wie alle ukrainischen Präsidenten. Er solle mehr tun, um den Krieg zu ­beenden, und nicht immer nur zum Kampf aufrufen.

Auch in Kiew seien sie ständig beschossen worden. Irgendwann habe sie sich entschlossen, das Land zu verlassen, auch weil sie Angst vor dem habe, was russische Soldaten den ukrainischen Frauen antäten. Sie habe die Zerstörung in den Vorstädten Kiews gesehen, die die russische Armee besetzt hatte. In Russland, das wisse sie von ihrer Verwandtschaft in Sankt Petersburg, erzähle man, es sei die ukrainische Armee gewesen, die in Butscha die Zivilbevölkerung massakriert habe. »Die sind verrückt«, meint sie dazu.

Am Wochenende gab es Berichte, der ukrainischen Armee sei in der Umgebung von Charkiw eine erfolgreiche Gegenoffensive gelungen. Damit soll die russische Artillerie zum Teil so weit zurückgedrängt worden sein, dass die Stadt nicht mehr in ihrer Reichweite lag. Doch sie mache sich da keine großen Hoffnungen. Die russische Armee sei in der Region nach so einem Rückschlag immer wieder vorgerückt. Der Krieg werde noch Jahre dauern, glaubt sie. In Charkiw sei sie Kindergärtnerin gewesen, habe eine eigene Wohnung besessen. Jetzt ist sie alleine unterwegs nach Deutschland. In Nürnberg habe sie eine Bekannte, bei der sie ein paar Tage unterkommen könne. Was sie dann machen soll, wisse sie nicht.