Der Rapper Jeshi nimmt sich das britische Sozialhilfesystem vor

Im Frustrations­kreislauf

»Universal Credit«, das Debütalbum des britischen Rappers Jeshi, erzählt vom prekären Leben als Wettlauf gegen die Zeit und verzichtet konsequent auf Ermutigung.

Klatschende Menschen umringen einen jungen Mann, jovial schauen sie auf ihn. Dem jungen Mann wird auf dem Bild, von dem hier die Rede ist, ein überdimensionierter Scheck überreicht. Der Blick aber, den dieser junge Mann direkt in die Kamera wirft, entlarvt die festliche Scheckübergabe als alptraumhaftes Szenario: Das auf dem Cover des Debüt­albums von Jeshi deutlich herausgestellte Stück Papier, ein Scheck im Wert über 324 Pfund und 84 Pence, verspricht keine Erleichterung, sondern gleicht einer Eintrittskarte in die Prekarität; der Scheck ist vom Sozialministerium ausgestellt. Die Aufschrift auf der Anweisung, zugleich der Albumtitel, »Universal Credit«, verschwindet im zeremoniellen Gedränge halb hinter einem Anzugträger. Doch was verbirgt sich hinter den zwei Worten?

2013 setzte der konservative damalige britische Arbeitsminister Iain Duncan Smith ganz im Geiste Margaret Thatchers eine Reform durch, die alle Formen von Sozialleistungen in einer Einheitszahlung zusammenfasste – den »Universal Credit«. Unter dem Vorwand, Arbeitssuchende zu mehr Engagement zu animieren, brachte diese euphemistisch betitelte Abspeisung eine ähnliche Zäsur wie in Deutschland die »Agenda 2010«. Was veranlasst nun neun Jahre später einen der bemerkenswertesten Newcomer des britischen Rap, sein Debütalbum nach dieser Sozialreform zu benennen?

Jeshis Texten wegen ihrer hermetischen Aussichts­losigkeit lähmenden Pessimismus zu unterstellen, würde zu kurz greifen, denn sie sind als konsequente Antwort auf grassierende neoliberale Empfehlungen zu verstehen.

In einem der Platte beigefügten Manifest schreibt der 27jährige, er wolle die zwei Worte, die für viele Menschen mit Scham verbunden seien, positiv umdeuten. Arme Menschen haben bekanntlich nicht nur mit ihrer ökonomischen Situation und dem daraus resultierenden Mangel zu kämpfen, ihr Selbstwertgefühl wird auch anhaltend in der Öffentlichkeit angegriffen. Die Herabwürdigung, die seit ein paar Jahren unter dem Stichwort »Klassismus« diskutiert wird, nutzen neoliberale Staaten schon lange, um ihre Sozialkürzungen zu legitimieren. Schon Thatchers »autoritärer Populismus« (Stuart Hall) rechtfertigte den Sozialstaatsabbau mit Mythen von Drücke­bergern (shirkers) und Schnorrern (scroungers).

Jeshi versucht, diesen Stigmatisierungen entgegenzuwirken. Seine Familie war selbst auf Sozialleistungen angewiesen, und den Großteil der Platte hat der in Ost-London geborene Jesse Greenway (Spitzname: Jeshi) verfasst, als er vollkommen pleite war. Beim Hören des Albums spürt man die Annäherung an das bestimmende Gefühl der Jetztzeit: die Instabilität.

Das Geräusch von berstendem Glas, der Bass dringt durch den Türspalt, ein Streit, dann wird gehustet und gekotzt – sich überlagernde, zusammengestauchte Klangfetzen einer Partynacht eröffnen das Album ­unter einem Titel, der wie ein Urteilsspruch daherkommt: »1st of the Month for the Rest of Your Life«. Ein Leben, bestimmt vom Kontostand. ­Jeshi erzählt das prekäre Dasein als Wettlauf gegen die Zeit. Ob die monatliche Miete oder befristete bull­shit jobs – die Stichtage sitzen einem immer im Nacken.

Auch die schlaflosen Nächte bringen keine Ruhe, sondern können als »depressive Hedonie« (Mark Fisher) begriffen werden, ein Modus apathischer Dauerbeschäftigung, der die psychischen Gräben gleichsam überbrückt und vertieft: »Think I’m getting sick of late nights / Sick of tryna sleep close the blinds from the light«. Was zunächst nach vorübergehender Katerstimmung klingt, stellt sich im Laufe des Albums als Konstante heraus.

In »Sick« wird Jeshi, begleitet von reverse drums, kontinuierlich zurück in den Frustrationskreislauf geworfen, gegen den er anrappt. Der atmosphärische Bass-Galopp des Produzenten Cadenza in »3210« bringt die nächste schlaflose Nacht ins Rollen, während Jeshi assoziativ Erinnerungsschnipsel aneinanderreiht, und auf »Killing Me Slowly« findet die Monotonie in gedämpften Piano-Loops Ausdruck, während das Wechselspiel aus Selbstverachtung und misemployment nachgezeichnet wird: »Look in the mirror, can’t face it / Fell asleep on the day shift / Gotta tell mum I went broke / What pain is«.

Für ein paar Sekunden lauscht man dann der Bandansage vom Anruf­beantworter des Arbeitsamts. Der damit vermittelte Stillstand nach dem Beschäftigungsverlust fühlt sich an, als wäre Jeshi mit dem Leben kollidiert wie mit einem heranrasenden Zug: »New day still feel the same / Feel like i got hit by a train«.

In »Generation« weitet Jeshi den Blick, schaut auf die Altersgruppe seiner jüngeren Schwester und findet auch dort kein Anzeichen von Verbesserung. Stattdessen beklagt er Vereinzelung, Pillenkonsum, die sich rasant häufenden Messerstechereien unter Jugendlichen und natürlich die verlockend strahlenden Displays, die die Aufmerksamkeit absorbieren und im verklärten Bilderfluss die eigene Unzulänglichkeit aufzeigen: »Generation sit home on your phone till you feel who you are ain’t enough«.

Jeshis Texten wegen ihrer hermetischen Aussichtslosigkeit lähmenden Pessimismus zu unterstellen, würde zu kurz greifen, denn sie sind als konsequente Antwort auf grassierende neoliberale Empfehlungen zu verstehen. »This is my whole world encapsulated in 40 mins and there’s no work coach required«, betont er in einem Interview über das Album. Ihn interessieren weder paternalistische Appelle, sich zusammenzu­reißen, noch individualisierende Empowerment-Gesten oder sen­timentale Aufstiegsmythen.

Als während der Pandemie die wöchentliche Auszahlung des »Universal Credit« um 20 Pfund erhöht wurde, konnte einer halben Million Kinder aus extremer Armut geholfen werden. Im Oktober kassierte Premierminister Boris Johnson diese Erhöhung wieder ein, obwohl Lebensmittel- und Energiepreise stiegen. Die Folgen waren abzusehen. Und dennoch stellt Jeshi im Pressetext über sein Album klar: »There’s no political messaging on there.« Die Zurückhaltung in dieser Aussage klingt zunächst merkwürdig und anachronistisch, schließlich scheint die Zeit vorüber, in der Musikerinnen und ­Musiker mit ihrer politischen Haltung hinter dem Berg halten.

In den vergangenen Jahren sind es vornehmlich in den Mainstream ­sickernde Rapperinnen und Rapper, die den Finger in die Wunden des Königreichs legen. Da wäre Slowthai, der auf seinem Album »Nothing Great About Britain« den Rule-Britannia-Patriotismus zerlegt. Oder Dave, der bei der Verleihung der Brit Awards 2020 umfassende Entschädigung für die Opfer des Feuers im Grenfell Tower (das Londoner Hochhaus brannte 2017 wegen Baumängeln ab) und des Windrush-Skandals (jahrzehntelang waren Migranten aus früheren Kolonien zu Unrecht als illegal Eingewanderte behandelt worden) forderte. Und dann ist da noch Stormzy, dessen Zeile »Fuck the Government and Fuck Boris« zum Protestslogan avancierte, der im Parlament rezitiert und beim Glastonbury Festival von Zehntausenden Menschen in den Nachthimmel gebrüllt wurde.

Doch bei Jeshi vermittelt sich die Kritik nicht bloß über wütende, auf den Affekt zielende punchlines, die den Frust verdichten und entladen. »Universal Credit« ist vielmehr ein fragmentiertes Storytelling-Album, das durch das Prisma von Jeshis Leben die Risse im politischen System anschaulich macht. Somit gewinnt er, gerade indem er political messaging vermeidet, viel Überzeugungskraft.

Dank der von Feature-Gast Obongjayar beigesteuerten hook findet sich mit »Protein« dann doch noch ein Sommerhit auf dem Album, jedoch trügen die beim Hören ausgeschütteten Endorphine, denn in den anschließenden Tracks werden Wunden der Vergangenheit aufge­rissen. Das Aufwachsen ohne den nach Jamaika ausgewiesenen Vater und die Beerdigung eines Freundes bilden die Schlussthemen dieses konzisen, tiefblickenden Debüts, dann fällt der letzte Satz: »Still can’t get to sleep« – eine Vergewisserung, dass die Zukunft bereits zerschlissen ist, bevor sie begonnen hat.

Jeshi: Universal Credit (Because Music)