Die Bundesregierung tastet auch in der Krise die großen Vermögen in Deutschland nicht an

Wer erbt, gewinnt

Besonders arme Menschen kämpfen derzeit mit steigenden Preisen und exorbitanten Heizkosten. Die Bundesregierung will unterdessen zur »Schuldenbremse« zurück.

Ein wahrer Regen schlechter Nachrichten prasselt seit Wochen auf die Deutschen ein. Die Inflation steigt auf ein Rekordniveau, der Gas- und Benzinpreis ebenso. Die Bundesregierung wird wohl nicht um weitere Hilfsmaßnahmen herumkommen, versucht aber gleichzeitig, die Bevölkerung auf Verzicht einzustimmen. »Das Sparen fängt jetzt an«, sagte Katja Hessel (FDP), Staatssekretärin im Bundesfinanz­ministerium, kürzlich. Die im Grundgesetz festgeschriebene »Schuldenbremse« müsse nach drei durch die Coronakrise bedingten Ausnahmejahren wieder eingehalten werden.

Sie folgt damit Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), der sich in der Regierungskoalition als Kämpfer gegen sozialpolitische Begehrlichkeiten profilieren will. Eine Beteiligung des Bundes an einem Nachfolgeangebot für das Neun-Euro-Ticket werde es mit ihm nicht geben, sagte er zum Beispiel am Wochenende, er halte nichts von einer »Gratismentalität«.

Als im Juli der Haushaltsentwurfs für 2023 vom Kabinett verabschiedet wurde, zeigte sich Lindner sichtlich stolz darauf, dass die »Schuldenbremse« wieder eingehalten werden soll. Dies sei durch »Konsolidierung« erreicht worden. Um weniger Schulden aufzunehmen, wird auf eine Rücklage in Höhe von 40,5 Milliarden Euro zurückgegriffen, die noch unter der Vorgängerregierung gebildet wurde. Steuererhöhungen soll es weiterhin nicht geben, eine höhere Erbschaftssteuer oder eine Vermögensabgabe lehnt Lindner ab – genauso wie eine sogenannte Übergewinnsteuer auf die wegen der hohen Energiepreise zum Teil stark gestiegenen Profite von Energieunternehmen. Eine solche Steuer »könnte dem Innovationsstandort Deutschland schaden«, schrieb Lindner kürzlich auf Twitter.

Die Prosperitätszeiten könnten tatsächlich vorbei sein. Wegen der steigenden Energiepreise, der Inflation und der unsicheren Wirtschaftslage droht Deutschland ein Verlust an Wohlstand. Die Frage ist freilich, wen diese Verluste besonders treffen werden und wer nur wenig von ihnen spüren wird.

Jedes Jahr werden etwa 400 Mill­iarden Euro vererbt oder verschenkt. Doch die Einnahmen aus der Erb­schaft- und Schenkungs­teuer machen gerade einmal 0,52 Prozent des gesamten Steueraufkommens aus.

Eine Antwort darauf gibt eine Studie, die die Vermögensforscher Moritz Schularick, Thilo Albers und Charlotte Bartels Ende Juli veröffentlicht haben und deren Ergebnisse so gar nicht zu all den schlechten Nachrichten zu passen scheinen. Demnach ist Deutschland viel reicher als angenommen. »Wenn man die Betriebsvermögen nach internationalen Standards bemisst und zudem für die Immobilienpreise die aktuelleren Zahlen der Bundesbank verwendet, dann ist Deutschland gut 4 000 Milliarden Euro reicher als gedacht«, schreiben die Autoren von der Uni Bonn, der Berliner Humboldt-Universität und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in der FAZ. Der Medianhaushalt, der genau in der Mitte der Verteilung liegt, habe ein Vermögen von etwa 120 000 Euro; im Durchschnitt verfügten deutsche Haushalte sogar über ein Vermögen von rund 420 000 Euro.

Was wie eine wundersamen Geldvermehrung klingt, liegt vornehmlich an der veränderten Berechnungsgrundlagen. Bei den bisher verwendeten Zahlen sind die teils immensen Wertsteigerungen, die Immobilien und Unternehmensanteile in den vergangenen Jahren erfahren haben, nicht berücksichtigt worden. Den Forschern zufolge habe ihre Studie zum »ersten Mal die Entwicklung der Vermögen und ihrer Verteilung in Deutschland von 1895 bis heute« nachgezeichnet.

Von den Vermögenszuwächsen profitiert der Studie zufolge allerdings fast ausschließlich die wohlhabendere Hälfte der Bevölkerung. Die Mittelschicht konnte ihr Vermögen ähnlich schnell mehren wie die Reichen, nur die ärmere Hälfte der Bevölkerung hat inflationsbereinigt dasselbe durchschnittliche Vermögen wie in den späten siebziger Jahren. Nach wie vor gehört Deutschland zu den Ländern mit hoher Einkommenskonzentration – dem reichsten Prozent der Haushalte gehören rund 27 Prozent des gesamten Vermögens.

Die Reichsten haben in den vergangenen Jahren davon profitiert, dass der Wert ihrer Unternehmensanteile stark gestiegen ist. Das Vermögen der Mittelschicht wiederum wuchs besonders durch die seit etwa 2010 steil angestiegenen Immobilienpreise. Wer eine Eigentumswohnung und ein Haus besaß, konnte zwischen 2009 und Anfang 2022 im Schnitt eine Rendite von mehr als acht Prozent erzielen. Börsennotierte Aktien boten in dem Zeitraum ähnlich hohe Erträge. Darauf verwies eine kürzlich erschienene Studie der Bundesbank. Ärmere Haus­halte legen ihre Ersparnisse – wenn sie welche haben – höchstens auf einem Sparkonto an, wo sie wegen der Inflation an Wert verlieren.

Die ärmere Hälfte der Gesellschaft tritt seit Jahrzehnten auf der Stelle. ­Betrug das durchschnittliche Vermögen unter den ärmeren 50 Prozent vor 50 Jahren rund 20 000 Euro pro Haushalt, so liegt es inflationsbereinigt heute immer noch auf dem gleichen Wert. Insgesamt ist der Reichtum in Deutschland der Bundesbank zufolge so ungleich verteilt wie nirgends sonst im gesamten Euro-Raum. Die soziale Mobilität hierzulande ist eine der niedrigsten aller OECD-Staaten.

Kein Zufall also, dass der Paritätische Gesamtverband in seinem Armutsbericht für 2022 einen neuen Rekord verzeichnet. Demnach leben mittlerweile rund 16 Prozent der Bevölkerung an oder unter der Armutsgrenze. Für viele in der ärmeren Hälfte der Gesellschaft ist es schlicht nicht möglich, Rücklagen zu bilden. Die derzeitigen Preiserhöhungen treffen sie besonders hart. So befürchtet der Deutsche Mieterbund, dass mindestens das untere Einkommensdrittel der deutschen Bevölkerung die Heizkosten nicht mehr zahlen könne. »Wir sprechen hier über Millionen«, sagte Mieterbund-Präsident Lukas Siebenkotten am Wochenende dem Tagesspiegel.

Es gäbe einige Möglichkeiten, dieser extremen Ungleichheit zu begegnen, zum Beispiel eine Erhöhung der Erbschaftsteuer. Vermögen hat meistens mehr mit der Herkunft als mit dem eigenen Einkommen zu tun. Ein großer Teil der Vermögen in Deutschland geht auf eine Erbschaft oder Schenkung zurück – jedes Jahr werden auf diesem Weg etwa 400 Milliarden Euro weitergeben. Doch die Einnahmen aus der Erbschaft- und Schenkungsteuer machen gerade einmal 0,52 Prozent des gesamten Steueraufkommens aus. Zu diesem Ergebnis kam im vergangenen Jahr eine OECD-Studie. »Wer hat, dem wird gegeben«, kommentierte die Wirtschaftswoche damals.

Es gibt durchaus Kritiker, die eine Reform der Erbschaftsteuer oder sogar eine Steuer auf Vermögen fordern. Es sei peinlich, »dass uns jetzt sogar Millionäre auffordern, dass sie besteuert werden möchten – und wir machen das nicht«, sagte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) kürzlich einem Interview im Spiegel. Mehr als 100 Millionäre aus verschiedenen Ländern hatten Anfang des Jahres in einer gemein­samen Erklärung eine Vermögensteuer für Reiche gefordert.
Eine Reform der Erbschaftsteuer und eine Vermögensteuer sind jedoch im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen. Die Sparvorhaben von Finanzminister Lindner werden also auf anderen Wegen finanziert werden müssen. Wenn die »Schuldenbremse« wieder gilt und gleichzeitig Steuern nicht erhöht werden, braucht es nicht viel Phantasie, um die Frage zu beantworten, wer die zusätzlichen Lasten vornehmlich tragen soll: Der vermögende Teil der Gesellschaft wird es kaum sein.