Ein Gespräch mit der ehemaligen Dissidentin Anna Šabatová über das neue sozial-ökologische Bündnis Solidarita 2022

»Neustart für die tschechische Linke«

Linke Parteien spielen in der Politik Tschechiens kaum eine Rolle. Anna Šabatová, Gründungsmitglied der Charta 77 und Menschenrechtlerin, hofft, dass eine Neuorientierung der Linken dies ändern kann. Sie ist Spitzenkandidatin der Liste Solidarita 2022 bei den Kommunalwahlen in der Region Prag.
Interview Von

Warum habt ihr euch zu den Kommunalwahlen am 23. und 24. September in Prag zu dem Bündnis Solidarita 2022 zusammengeschlossen?

Wir haben die Koalition zwischen den Grünen (SZ, Anm. d. Red.), den Sozial­demokraten (ČSSD, Anm. d. Red.) und zwei weiteren Organisationen gebildet, weil wir der Meinung sind, dass sich die progressiven Kräfte der Linken zusammenschließen müssen, um Einfluss auf das aktuelle Geschehen zu nehmen. In den vergangenen Jahren gab es Rückschläge für die gesamte Linke, selbst die konservative Linke. Es gibt weder Kommunisten noch Sozialdemokraten oder Grüne im Parlament. Dies ist eine sehr gefährliche Situation, insbesondere in diesen turbulenten Zeiten. Nervosität und Ängste nehmen in der Gesellschaft zu. Hoffen wir, dass Solidarita in der Lage sein wird, auf die Krise so zu reagieren, dass sie nicht von rechts­populistischen Kräften überrollt wird.

In beiden großen linken Parteien findet teilweise ein Generationswechsel statt, der bei den Grünen zu einer größeren Sensibilität für soziale Fragen und bei den Sozialdemokraten zu einer stärkeren Betonung von Belangen der Umwelt und des Klimawandels führt. Es gibt eine Konvergenz der Ansichten über das, was wir als »gerechten Übergang« (soziale Transformation, Anm. d. Red.) bezeichnen:, eine radikale, aber sozialverträgliche Umstellung von ­fossiler auf erneuerbare Energie.

Wen meinen Sie mit »konservative Linke«?

Die Kommunisten (KSČM, Anm. d. Red.) und einen Teil der sozialdemokratischen Partei. Die Kommunisten klingen hierzulande teilweise wie die Rechten, bei den Sozialdemokraten gibt es ebenfalls einen solchen Flügel. Das ist vielleicht schwer zu verstehen, aber vor ein paar Jahren sind zum Beispiel ein paar Sozialdemokraten zu der rechtsradikalen Partei SPD gegangen. Diese Leute posi­tionieren sich auch im Russland-Ukraine-Konflikt ganz anders, so übernehmen sie in Teilen das Moskauer Narrativ.

Einige Prager Sozialdemokraten haben nach dem Zusammenschluss in unserem Bündnis und der Erklärung meiner Kandidatur die Partei verlassen, aber sicher nicht alle. Gerade gibt es in der Sozialdemokratischen Partei eine Spaltung, ein Teil will sich mit den wirklich linken und progressiven Parteien zusammenschließen. Dadurch haben wir bei uns auch sehr viele junge Leute, die ganz anders denken als einige aus der alten Generation der Sozial­demokraten. Deshalb werden die Kommunalwahlen entscheidend für die ­zukünftige Strategie sein. Ein Erfolg des Bündnisses würde die progressiven Kräfte, ein Misserfolg die rückwärtsgerichteten stärken. Wir sind der Versuch eines Neustarts der progressiven Linken.

Wie ist gerade die Lage für die Menschen in Prag?

Die derzeitige Lage ist aufgrund der Inflation und der Energiekrise sehr schlecht und für die Menschen praktisch nicht zu bewältigen. Und die ­derzeitige rechtsgerichtete Regierung reagiert nicht energisch genug darauf. Alle Maßnahmen kommen erst nach langem Zögern, sind völlig unzureichend und oft chaotisch. Selbst rechtsgerichtete Kommentatoren werfen der Regierung Unentschlossenheit, Passivität und Inkonsequenz im Vergleich zu anderen europäischen Ländern vor.

Wie ist die politische Situation in der Prager Kommunalregierung?

Die hängt eng mit der Situation in der Tschechischen Republik zusammen. Die rechten Kräfte haben sich vor den letzten Parlamentswahlen organisiert, um gegen Andrej Babiš zu gewinnen (dieser führt die populistische Partei ANO und war ab 2017 Ministerpräsident, bis er nach den Wahlen von 2021 abgelöst wurde, Anm. d. Red.). Ein Teil dieser Kräfte ist in der Koalition, die in der Region Prag regiert. Diese Koali­tion hat drei Subjekte, die Piratenpartei, »Prag für sich« und das Dreiparteienbündnis Vereinigte Kräfte für Prag. Dieses Bündnis besteht aus der ODS (der liberal-konservativen Demokratischen Bürgerpartei, Anm. d. Red.), Top 09 (­einer neoliberalen Partei, Anm. d. Red.) und der Bürgermeisterpartei STAN. Die ODS und Top 09 sind gehören jetzt dem konservativen Bündnis Spolu an. Keine der gegenwärtigen Koalitionsparteien kann alleine regieren, aber es sieht so aus, als würden die progressiveren Parteien unsere Unterstützung brauchen.

Wie sehen Sie Ihre Chancen in Prag?

Die Entwicklung ist sehr dynamisch. Bis zu den Wahlen können wir noch von vielen Dingen überrascht werden. Ich schätze, dass wir etwa zehn Prozent gewinnen werden. Aber es könnte auch mehr werden.

Welche Reaktionen gibt es auf Solidarita 2022?

Es ist noch nicht klar, wie viele Menschen wissen, was sich hinter dem Namen Solidarita verbirgt. Wir haben v­iele positive Reaktionen erlebt, aber noch mehr Unwissenheit. Leider sind wir bei der Verbreitung unseres Ma­terials auch auf sehr starke Skepsis gegenüber der Politik als solcher gestoßen. Die anderen Parteien haben bisher nicht sehr viel auf uns reagiert, was natürlich nicht gut ist.

Welche Menschen will das Bündnis ansprechen?

Wir möchten die Menschen erreichen, die in der Vergangenheit für die Sozialdemokraten gestimmt haben, aber auch alle Menschen, die sich der Ernsthaftigkeit der Klimakrise bewusst sind. Dabei richten wir uns besonders an die junge Generation, die erkennen soll, dass es in erster Linie um ihre Zukunft geht.

Wie geht es nach der Kommunalwahl weiter, gibt es eine Perspektive auf einen Zusammenschluss für ganz Tschechien?

Ich denke, das wird stark vom Ergebnis in Prag abhängen. Wenn wir erfolgreich sind, dann glaube ich, dass der In­te­­grationsprozess weitergehen und sich im ganzen Land ausbreiten wird. Wenn wir nicht erfolgreich sind, befürchte ich, dass sowohl bei den Grünen als auch bei den Sozialdemokraten jene Stimmen stärker werden, die diese Integration nicht wollen. Es hat keinen Sinn, sich vorzumachen, dass diese Kräfte nicht in beiden Parteien vorhanden seien.

Wie könnte es einer linken Bewegung gelingen, in Tschechien wieder zu einer relevanten Kraft zu werden?

Das ist möglich, wenn wir auf die Krise, in der wir uns befinden, richtig reagieren. Das ist leicht gesagt, aber nicht so leicht in konkrete politische Praxis zu übersetzen, vor allem bei Kommunalwahlen nicht, da klar ist, dass nicht ­alles, was die Menschen umtreibt, von der lokalen Ebene aus verändert werden kann. In diesem Bewusstsein werden wir alles tun, um erfolgreich zu sein, denn ohne konsequente linke Politik sind die derzeitigen und zukünf­tigen Krisen nicht zu bewältigen. Unser Ziel ist es, bei den Wahlen zum Prager Stadtrat erfolgreich zu sein. Wir wollen beweisen, dass dieses Bündnis sinnvoll ist und eine Hoffnung für einen Neustart der progressiven Linken auf nationaler Ebene sein kann.

Was lässt sich von der lokalen Ebene aus verändern?

In Prag stehen 13 Prozent der Wohnungen leer. Wir fordern eine Steuer für den Leerstand sowie für Zweit- und Drittwohnungen. Zudem fordern wir eine Regulierung von Airbnb-Unterkünften. Das sind die zwei wichtigsten Punkte, zu denen wir einen Gesetzesvorschlag erarbeiten wollen. Jede Region, also auch Prag, hat das Initiativrecht in der Gesetzgebung. Das heißt, dass Prag theoretisch einen Gesetzesvorschlag bei der Regierung einreichen kann, diese muss ihn dem Parlament zur Befassung vorlegen. Das war aber in der Praxis noch nie erfolgreich. Dennoch wollen wir dieses Initiativrecht nutzen und unseren Vorschlag einbringen.

 

Anna Šabatová

Anna Šabatová wurde 1951 in Brno (Brünn) geboren, 1969 begann sie dort ihr Studium der Philosophie und Geschichte. Sie wurde im November 1971 als Dissidentin verhaftet, bis Ende 1973 inhaftiert und durfte ihr Studium nicht beenden. Später war sie Unterzeichnerin der Charta 77 und gab das Bulletin der gleichnamigen Gruppe heraus. Nach der sogenannten Samtenen Revolution im November und Dezember 1989 setzte sie sich weiterhin in NGOs für Solidarität und Toleranz ein. 1998 erhielt sie als Gründungsmitglied der Charta 77 den Menschenrechtspreis der Vereinten Nationen. Von 2014 bis 2020 war sie die tschechische Ombudsfrau. Sie war Vorsitzende des tschechischen Helsinki-Komitees für Menschenrechte und Mitglied des Komitees gegen Folter des Europarats. Zudem lehrte sie an der Prager Karls-Universität soziale Politik und Arbeit. Bereits 2008 kandidierte sie bei den Senatswahlen für die tschechischen Grünen. Bei den Kommunalwahlen ist sie in der Region Prag die Spitzenkandidatin der sozial-ökologischen Liste Solidarita 2022.